(c) Robina Weermeijer - Unsplash
Author profile picture

Lange hielt man Mikrogliazellen für mäßig erfolgreiche Immunzellen im Gehirn. Erst zu Beginn der Nullerjahre fand man heraus, dass sie unser Nervensystem aktiv mitgestalten. In den ersten Lebensjahren kappen sie schwache Verbindungen, um das Netzwerk der Nervenzellen zu verfeinern. Dadurch werden Wahrnehmungen nachhaltig im Gehirn verankert.

Das Netz, das die Nervenzellen verbindet und Erinnerungen speichert, ist das perineuronale Netz. Es ist in dieser frühen Entwicklungsphase besonders anpassungsfähig und viel freier als später im Erwachsenenalter.

Mikrogliazellen

In der frühkindlichen Phase befinden sich die Mikrogliazellen in einem reaktiven Zustand. Später nehmen sie eine Beobachterrolle ein. Der Übergang ist fließend, zeigt sich aber auch in der Form der Zellen. Im Beobachtungsmodus ziehen sich Mikroglia wie Wurzeln durch das gesunde Gehirn und überwachen die Funktionen. Reaktive Mikroglia nehmen eine kugelig runde Form an und umschließen das Gewebe, das sie abbauen.

Ketamin

Die Neurowissenschafterin Professor Sandra Siegert, die am Institute of Science and Technology (IST) Austria lehrt und forscht, will die Rolle der Mikroglia im gesunden und im kranken Hirn verstehen, um neue Therapieformen zu ermöglichen. Schon vor vier Jahren führte ein Versuch ihres Teams zu einem sensationellen Ergebnis: Die Forscher betäubten die Mäuse mit Ketamin, einem wichtigen Medikament in der Chirurgie, das seit kurzem auch in der Psychiatrie zugelassen ist. Dabei stellten sie fest, dass Mikrogliazellen in den Mäusegehirnen sehr reaktiv werden.

Auch interessant: Alzheimer-Forschung: Warum sterben Zellen ab und andere nicht?

Die Forscher wussten, dass Mikrogliazellen auch Synapsen und ganze Neuronen auffressen können. Ein Phänomen, das häufig in späten Phasen der Alzheimer Krankheit auftritt. Deshalb überraschte sie zunächst lediglich die Stärke der Reaktion. Aber als sie sahen, dass die Mikrogliazellen das perineuronale Netz fraßen und nicht wie erwartet die Neuronen und Synapsen, brach Begeisterung aus. Schon nach drei Behandlungen konnte ein erheblicher Verlust perineuronalen Netzes festgestellt werden. Dadurch schwinden die Blockaden und es ist wieder für neuen Input und Synapsen empfänglich.

Fressende Mikrogliazellen. Zwei Mikrogliazellen (grün) und haben in ihrem Inneren Teile des perineuronalen Netzes (magenta), die sie gefressen haben. Dieses Verhalten wurde unter Kontrollbedingungen ohne Ketamin nicht beobachtet. © IST Austria

Lichttherapie

Unlängst wendeten die Forscher ein anderes Verfahren an, das sie erneut in große Aufregung versetzte: Sie behandelten die Mäuse mit 60 mal pro Sekunde flackerndem Licht und schafften es auch auf diese Weise wieder, die Blockaden des perineuronalen Netzes zu lösen. Ein Effekt, der mit der Kommunikation der Neuronen zu erklären ist, die sich gegenseitig elektrische Impulse zusenden. Diese Impulse sind so koordiniert, dass sie Wellen aus Signalen – sogenannte Hirnwelle – erzeugen. Diese Wellen können durch äußere Sinneseindrücke beeinflusst werden, zum Beispiel durch Licht, das in die Augen scheint. Es gibt also eine genaue Abstimmung zwischen verschiedenen Hirnwellen und der Aktivität von Mikroglia, so der Befund der Forscher.

Diese Ergebnisse könnten die Grundlage für ein auf den Menschen übertragbares therapeutisches Werkzeug bilden. Indem man die Plastizität des Gehirns wiederherstellt, könnte man möglicherweise traumatische Erfahrungen überschreiben und posttraumatische Belastungsstörungen behandeln. „Aber wir sind sehr vorsichtig, denn in diesem prägenden Fenster könnte auch etwas Traumatisches passieren“, warnt die Neurowissenschafterin.

Traumata überschreiben

Die Forschung steht noch ganz am Anfang. Momentan führen die Forscher Verhaltensstudien an Mäusen durch, um zu sehen, ob die Lichttherapie mit negativen Konsequenzen verbunden ist. Siegert: „Bisher scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Die Mäuse scheinen eine verbesserte Leistungsfähigkeit aufzuweisen. Daher untersuchen wir, ob eine bestimmte Stimulierungslänge und die Anzahl der Wiederholungen kritisch ist für positive, wie auch mögliche negative Konsequenzen.“

Dann gilt es noch herauszufinden, wo bestimmte Erinnerungen gespeichert werden. Oftmals erstreckt sich ein komplexes Netzwerk an neuronalen Verschaltungen aber über viele verschiedene Gehirnregionen. Durch das bestimmte Tunen einer Frequenz könnte es möglich werden, das gesamte Netzwerk der verschalteten Nervenzellen zu modulieren.

Eine Mikrogliazelle dringt in das perineuronale Netz ein. Eine Mikrogliazelle (grün) gräbt ein Loch in das perineuronale Netz (magenta). Dieses Verhalten wurde unter Kontrollbedingungen ohne Ketamin nicht beobachtet. © IST Austria

Auch über die Art des allfälligen therapeutischen Werkzeugs spekulieren die Forscher noch. „Es gäbe verschiedene Möglichkeiten, Lichttherapien mit einer Verhaltenstherapie zu kombinieren. Wir denken, dass wir nur in dieser Kombination positive Effekte erkennen werden.“ Das Werkzeug könnte ähnlich wie eine Tageslichtlampe oder Lichttherapiebrille funktionieren.

Es gibt aber noch weitere Anwendungsmöglichkeiten für diese Behandlungen. Eine davon ist die Amblyopie, eine Sehstörung, die durch einen unausgewogenen visuellen Input während der kindlichen Entwicklung verursacht wird. Unbehandelt führt sie zu einem dauerhaften Verlust des Sehvermögens. Ein weiteres Thema, dem die Forschenden nachgehen wollen, sind die molekularen Mechanismen, die hinter ihrer Entdeckung stehen und die noch nicht vollständig verstanden sind.

Minimal invasiv

Fest steht, dass die Methoden gegenüber bestehen Ansätzen zur Entfernung des perineuronalen Netzes im Vorteil sind. Sowohl das 60-Hertz Lichtflackern als auch die Ketaminbehandlung sind einfach und minimal invasiv. Hingegen ist die enzymatische Entfernung mit dem Enzym Chondroitinase ABC enorm invasiv und langwierig. Eine Strategie mit einigen Einschränkungen, die eine therapeutische Anwendung verhindern, erklärt Siegert. Denn zunächst muss das Enzym direkt ins Gehirn injiziert werden, weil es die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann.

Dort degradiert es die gesamte extrazelluläre Matrix und nicht nur spezifisch das perineuronale Netz. Außerdem dauert der Abbau der extrazellulären Matrix mehrere Monate und das könnte das Gehirn übersensitiv machen.

Auch interessant: Bluttest erkennt Alzheimer in einem frühen Stadium

Publikation

Die Ergebnisse wurde in der Zeitschrift Cell Reports veröffentlicht: Venturino, Schulz, De Jesús-Cortés, Maes, Nagy, Reilly-Andújar, Colombo, Cubero, Schoot Uiterkamp, Bear, Siegert. 2021. Microglia enable mature perineuronal nets disassembly upon anesthetic ketamine exposure or 60-Hz light entrainment in the healthy brain. Cell Reports