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Warum wir über dieses Thema schreiben:

Der Pilot in Wien zeigte, dass es möglich ist, ein bodenschonendes Anergienetz im städtischen Raum umzusetzen – und das bei Investitionen, die sich innerhalb von 20 Jahren amortisieren.

Die 1,9 Millionen-Einwohner-Stadt Wien hat viel historische Baumasse und rund 60 Prozent der Wohnungen (400.000) werden mit Erdgas beheizt. Aufgrund der Klimaerwärmung wächst zudem der Kühlbedarf. Zur Umsetzung der Energiewende bis 2040 sind also neue Lösungen gefragt. Eine vielversprechende Möglichkeit wäre das System der Anergienetze, das in Neubauten schon eingesetzt wird.

Im Pilotprojekt AnergieUrban1 untersuchte man jetzt, ob und wenn dann wie dieses System auch nachträglich im Altbaubestand zu realisieren wäre. Das Forschungskonsortium arbeitete im Auftrag des österreichischen Umweltministeriums. Forschungspartner waren die TU Wien, die Geologische Bundesanstalt, die Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik (ÖGUT) sowie das Architekturbüro Zeininger Architekten in der Rolle des Konsulenten. 

Anergienetze

Anergienetze – auch unter kalte Nahwärme oder kalte Fernwärme bekannt – ist eine vielversprechende Variante der Wärmeversorgung, die nachhaltig und potenziell treibhausgas- und emissionsfrei ist. Entsprechende Netze können komplett mit erneuerbarer Energie betrieben werden und die schwankende Produktion von Windkraft- und Photovoltaikanlagen ausgleichen. Zudem können Netzteilnehmer als Prosumer agieren und Energie nicht nur konsumieren sondern auch produzieren.

In Wiener Pilot verwendete man im Wesentlichen gängige Komponenten und adaptierte und kombinierte diese neu. So entstand ein System, das aus Solarenergie, Abwärmenutzung und Erdwärmesonden besteht. Bei einer intensivierten Nutzung von Erdwärme – wie dies im städtischen Raum der Fall ist – kann es zu einer erkaltenden Bodenmasse kommen. Deshalb galt es, dem Erdreich die Wärme, die im Winter entzogen wird, im Sommer wieder zurückzugeben. Das ist der Aspekt, der die Stadt zu ihrem eigenen Heizkörper macht. Zudem stellte sich die Frage nach einer ausreichenden Flächenverfügbarkeit im Untergrund. Da der städtische Boden mit Kanal-, Trinkwasser-, Glasfaser- und Stromleitungen schon dicht verlegt ist. Eine Herausforderung, der man mit zwei unterschiedlich dicht besiedelten Testgebieten begegnete: 

  • einer Wohnsiedlung aus den 1960er-Jahren im 14. Bezirk mit rund 2.000 Einwohnern; 
  • einem gründerzeitlichen Häuserblock im 16. Bezirk, wo 10.000 Menschen hauptsächlich in Gründerzeithäusern wohnen. Die Häuser beider Stadtgebiete werden derzeit noch mit fossilem Erdgas beheizt.

Wärme aus Erdsonden

Spezifisch für Anergienetze ist, dass diese mit geringen Temperaturen im Bereich der Umgebungstemperatur betrieben werden und die Temperaturen meist zwischen 10 und 25 Grad Celsius liegen. Dadurch können Anergienetze Wärmeenergie nutzen, die sonst ungenutzt verpuffen würde – wie dies zum Beispiel bei Erdwärme, und Abwärme der Fall ist. Die Temperaturen dieser natürlichen oder wiederverwerteten Wärmeenergien sind zu gering, um Warmwasser zu erzeugen oder Gebäude zu beheizen. Deshalb werden diese über eine Wärmpumpe auf das erforderliche Niveau angehoben.

Im Wiener Pilot wurde die Anergie aus Solarkollektoren und Abwärme aus der Gebäudekühlung gewonnen und dann über Erdsonden im Boden gespeichert. Ab zehn Meter Tiefe beträgt die natürliche Wärme des Erdbodens in Österreich ganzjährig 10 bis 12 Grad Celsius. Die Erdsonden werden über Bohrlöcher in bis zu 135 Meter Tiefe positioniert. Dort sind sie mit einem Zement-Bentonit-Gemisch geschützt und können die Umgebungswärme aus dem Boden über das Grundwasser aufnehmen. Der Transfer erfolgt über den Wärmetauscher. Das ist ein Kunststoffschlauch, der u-förmig in das Bohrloch eingebracht wird. 

Im Sommer lässt sich die überschüssige Wärme mittels Erdsonden abführen und speichern, im Winter kann man auf die im Boden gespeicherte Wärme über die gleichen Erdsonden wieder zugreifen.

Ausgleichen der Bodentemperatur

Da dem Boden nicht nur Erdwärme entzogen, sondern auch Wärme zugeführt wird, kann im Jahresschnitt eine ausgeglichene Bodentemperatur sichergestellt werden. Wobei es aufgrund von Klimaerwärmung und Überbauungen zunehmend auch zu einer Überhitzung des Bodens kommt. An manchen Orten in Wien beträgt die Bodentemperatur schon 18 Grad. Das ist um ein Drittel mehr als der normale Durchschnitt von 12 Grad. Im Wiener Forschungskonsortium denkt man, dass die Nutzung der oberflächennahen Geothermie auch eine Strategie sein kann, den überhitzten Boden wieder abzukühlen. 

Flächenverfügbarkeit im Untergrund

Im Zuge des Pilotprojekts entstand im 17. Bezirk in Wien das erste nachhaltige Anergienetz in einem gründerzeitlichen Häuserblock und entwickelte sich zu einem weltweiten Vorzeigeprojekt in Sachen Energiewende. Der Wohnblock besteht aus 18 Häusern – und ebenso viele Bohrungen waren notwendig, um die Erdsonden für das Sammeln, Speichern und Verteilen der Anergie Energie im Boden zu positionieren. 

(c) Wirtschaftskammer Wien

Die detaillierten Analysen der Freiflächen ergeben, dass auch im dicht verlegten städtischen Boden grundsätzlich noch genügend Platz für Erdwärmesonden vorhanden ist. Aus technischer Sicht stehe der Ablösung fossiler Heizsysteme also nichts mehr im Wege, so das Konsortium in seinem Bericht. Das System könnte in allen Stadtteilen und Städten Österreichs ausgerollt werden. Allerdings bedarf es noch geeigneter gesetzlicher Regelungen, da in die Analyse der Freiflächen auch öffentliche Flächen einbezogen wurden – Gehsteige, Parkplätze und Straßen. Die Nutzung dieser Flächen für die Energie-Infrastruktur ist derzeit noch nicht vorgesehen. Aber die Stadt Wien arbeitet gerade an einer Richtlinie, welche die Nutzung des öffentlichen Raumes für Erdsonden regelt.

Landschaftsschonende Geothermie

Auch werde der Boden durch das Verlegen von Erdwärmesonden nicht ausgebeutet. Im Vergleich zu anderen Energiegewinnungsformen sei die Geothermie sogar sehr landschaftsschonend. Zudem müssen auch strenge Bestimmungen zum Schutz des Bodens eingehalten werden. Sind die Erdsonden einmal verlegt, können sie überbaut oder mit Humus überdeckt werden, so dass man sie nicht sieht. 

Das Anergienetz ist modular aufgebaut und kann sukzessive wachsen, indem es Liegenschaft um Liegenschaft miteinander verbindet. Als solches bietet es tatsächlich die Möglichkeit, die gesamte Stadt als Heizkörper zu nutzen und von thermischen Insellösungen in den Wohnungen wegzukommen. Das ist insofern wichtig, als rund ein Drittel des derzeitigen Energieverbrauchs auf Gebäude entfällt.

Umstieg auf Anergie Energie

Werden Häuser mit Anergie Energie geheizt oder gekühlt, so ist dafür nur der Strom für die Wärmepumpe und für die Pumpe des Wasserkreislaufs notwendig. Mit einer Kilowattstunde Strom können dabei bis zu sechs Kilowattstunden an Wärme erzeugt werden. Auch der Umstieg auf ein Solar/Erdwärmesonden/Wärmepumpen-System wäre ökonomisch attraktiv: Laut Vollkostenvergleich rechnet sich dieser bei einem Wiener Gründerzeithaus mit Gasheizungen schon innerhalb von 20 Jahren. Wobei die Fortführung der bestehenden Gas-Heizungen ähnliche Kosten verursachen würde, wie der Umstieg. Das heißt, die Umstellung auf erneuerbare Energien wäre ohne Mehrkosten möglich. Auch würde das Kühlsystem im Sommer keine zusätzlichen Kosten verursachen. 

Besonders an einem Anergienetz ist, dass auch Häuser versorgt werden können, die alleine nicht genug Wärmequellen oder -speichermöglichkeiten hätten, durch das Netz aber durch die Überschüsse der Nachbarhäuser mitversorgt werden können. 

Um die Ausrollbarkeit auf andere österreichische Stadtgebiete sicherzustellen, läuft gerade das Projekt AnergieUrban Leuchttürme. In diesem wird anhand konkreter Bauvorhaben geprüft, welche rechtlichen, organisatorischen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um eine bestmögliche Geothermie-Nutzung im urbanen Raum zu ermöglichen.

Foto oben: Der Smart Block in der Geblergasse in Wien – Zeininger Architekten (c) Kurt Hoerbst