© Heuberger/Charité
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Eigentlich soll unser Immunsystem Viren mit antiviralen Botenstoffen bekämpfen. Auch das SARS-CoV-2-Virus. Meistens funktioniert das auch und Menschen, die sich infiziert haben, werden von alleine wieder gesund. Ein Teil hat nicht einmal Symptome, während andere schwerere Verläufe haben. Rund zehn Prozent erkranken sogar so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Die Annahme, dass ein zu schwaches Immunsystem dafür verantwortlich ist, trifft in diesem Fall nicht zu. Ganz im Gegenteil. Das Immunsystem arbeitet unter Hochdruck, schafft es aber nicht, das Virus zu kontrollieren. (IO berichtete bereits darüber.) Wieso das so ist, war bisher aber ein Rätsel.

Forscher der Berliner Charité und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) fanden nun heraus, wie ein Verteidigungsmechanismus des Immunsystems SARS-CoV-2 geradezu dabei hilft, um verstärkt Schleimhautzellen des Körpers zu entern und sich dort zu vermehren. “Damit können wir möglicherweise einen Teil der Erklärung dafür liefern, warum bei manchen Menschen das Immunsystem Schwierigkeiten hat, die Infektion zu regulieren oder gar zu besiegen“, sagt Dr. Julian Heuberger, Wissenschaftler an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hepatologie und Gastroenterologie der Charité und Erstautor der Studie, die im Fachjournal EMBO Molecular Medicine veröffentlicht wurde.

Normalerweise wehrt ein sehr effektives Verteidigungsprogramm im menschlichen Körper Eindringlinge ab. Dieses basiert auf dem Zusammenspiel verschiedener Immunzellen. Dabei spielen die T-Zellen eine wichtige Rolle, denn sie zerstören die befallen Zellen, wenn sie im Organismus auf Viren stoßen. Außerdem schütten sie den Botenstoff Interferon-gamma (IFN-γ) aus. Der bekämpft einerseits Infektionskeime und ruft andererseits weitere Immunzellen auf den Plan.

Schutzmechanismus wird in sein Gegenteil verkehrt

Das Team um Dr. Heuberger konnte nun zeigen, wie SARS-CoV-2 diesen Schutzmechanismus in sein Gegenteil verkehren kann. Der Grund: Neben den Immunzellen reagieren auch die Schleimhautzellen (Epithelzellen) des Körpers auf IFN-γ, indem sie mehr ACE2-Rezeptoren ausbilden. Und diese ACE2-Rezeptoren sind der Punkt, an dem SARS-CoV-2 andockt, um in die Zellen einzudringen. Und ist eine Zelle infiziert, bildet sie wiederum mehr ACE2, über die das Virus eindringen kann. Also bewirken sowohl die IFN-γ-Antwort der Epithelzellen als auch das Virus selbst eine verstärkte SARS-CoV-2-Infektion.

Menschen, die mit SARS-CoV-2-infiziert sind, zeigen teilweise Magen-und-Darm-Beschwerden. Dr. Heuberger hat Organoide des menschlichen Dickdarms kultiviert, um die Immunkaskade in den Darmzellen beobachten zu können. Die Dickdarm-Organoide – eine Art Mini-Organ in der Petrischale – basieren auf Zellen, die aus Darmbiopsien stammen und in dreidimensional angeordneten Einheiten wachsen. Sie bilden die Physiologie der Schleimhautzellen des menschlichen Darmtraktes ab. “Diese Dickdarm-Organoide sind ein sehr hilfreiches Werkzeug“, betont Dr. Heuberger. “Wir können damit das komplexe Zusammenspiel verschiedener Signalwege erforschen, die die Zelldifferenzierung von der Stammzelle bis zur spezialisierten Epithelzelle kontrollieren.“

Teufelskreis

Diese gezüchteten Darmzellen behandelten die Forscher zunächst mit IFN-γ. So sollte die Immunreaktion des Körpers simuliert werden. Dann wurden die Organoide mit SARS-CoV-2 infiziert. Das Ergebnis war, dass in den Organoiden mit Hilfe eines speziellen Lichtmikroskops eine vermehrte ACE2-Expression gemessen werden konnte. Daneben habe man eine quantitative PCR eine gesteigerte Virusproduktion nachgewiesen. Das heißt, je mehr IFN-γ vorhanden ist, desto mehr ACE2 wird gebildet, und je mehr ACE2 gebildet wird, desto mehr Viren können in die Zellen eindringen. Und je mehr Viren in die Zellen gelangen, desto mehr Viren werden gebildet. So ebnen die Immunantwort und die Reaktion der Schleimhautzellen auf die Infektion SARS-CoV-2 den Weg. Ein Teufelskreis.

“Wir nehmen an, dass eine starke Immunantwort die Anfälligkeit von Schleimhautzellen für SARS-CoV-2 erhöhen kann“, sagt der Leiter der Studie Privatdozent Dr. Sigal. Er leitet an der Charité und am MDC eine Arbeitsgruppe und ist als Gastroenterologe an der Charité tätig. “Wenn die IFN-γ-Konzentration von vornherein höher ist oder die Infektion eine sehr überschießende Produktion von IFN-γ triggert, haben es die Viren vermutlich leichter, in die Zellen einzudringen.“

Unter welchen Bedingungen das tatsächlich passiert, müsse allerdings erst in klinischen Studien untersucht werden. Die Ergebnisse der Studie tragen die Idee eines Behandlungsansatzes bei schweren COVID-19-Verläufen in sich, sagt Dr. Heuberger: “Eine mögliche Strategie könnte darin bestehen, die IFN-γ-Antwort medikamentös auszubalancieren.“ Allerdings müssten dafür zunächst die Mechanismen, die der IFN-γ-Antwort zugrunde liegen, sehr genau analysiert werden.

Titelbild: Darm-Organoide: Nach einer Behandlung mit Interferon-gamma lokalisieren sich die Zellkerne (blau) der Epithelzellen (grün) am basalen (äußeren) Rand der Organoide. Damit geht eine verstärkte Produktion des Rezeptors ACE2 einher, den SARS-CoV-2 als Einstiegspforte in die Zellen nutzt. Foto: Heuberger/Charité

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