Carbon-Footprint ©Pixabay
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Der Industriesektor ist für etwa 20 Prozent der EU-weiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Wenn er die Ziele aus dem Paris-Abkommen, die in der Langfriststrategie der EU-Kommission niedergeschrieben sind, erreichen möchte, sollten seine Emissionen bis 2050 nahezu vollständig reduziert werden. Dies ist tatsächlich möglich, wie eine aktuelle Studie des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) in Zusammenarbeit mit ICF Consulting Services Limited zeigt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berechneten, dass bis zum Jahr 2050 eine Dekarbonisierung des Industriesektors von 95 Prozent machbar ist. Doch Voraussetzung für die fast vollständige Emissionsfreiheit sind innovative, CO2-neutrale Technologien sowie ein umfassender technischer Wandel.

Für ihre Arbeit untersuchten die Forschenden, welchen Beitrag einzelne Technologien für die Dekarbonisierung leisten können. Gleichzeitig schauten sie auch, wie diese Technologien gefördert werden könnten. Denn parallel zu ihrer Studie untersuchte das Fraunhofer ISI die Rolle eines Innovationsfonds. Dieser soll den Technologien mit Einnahmen aus dem EU-Emissionshandel zur Marktdiffusion verhelfen.

Fokus auf Produktion von Grundstoffen

Ein besonderes Augenmerk der Studie Industrial Innovation: Pathways to deep decarbonisation of Industry galt der industriellen Produktion von Grundstoffen wie Stahl, Zement, Ethylen, Ammoniak und Glas: Denn sie ist für einen Großteil der Industrieemissionen verantwortlich. Zudem gilt sie in Bezug auf Dekarbonisierung als besonders schwierig.

Für ihre Forschungen setzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das vom Fraunhofer ISI entwickelte Simulationsmodell FORECAST mit hoher Technologieauflösung ein. Hiermit berechneten sie acht alternative Szenarien. Alle acht zeigten, dass eine ambitionierte Verbesserung der Energieeffizienz die Kosten der Dekarbonisierung senken würden. Sie könnten somit besonders in den kommenden 10 bis 20 Jahren substanzielle Beiträge zur CO2-Einsparung leisten. Demnach könnten die Treibhausgasemissionen des Industriesektors bis 2050 um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden. Doch reicht das allein nicht aus, um die Emissionen ausreichend zu mindern.

Zentraler Faktor: Erneuerbare Energien

Ein entscheidender Faktor ist ein schneller Ausbau der Erneuerbaren Energien, um CO2-freien Strom zu gewinnen. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, da sich der Stromverbrauch des Industriesektors bis 2050 stark erhöhen könnte. Je nach Szenario könnte er sich verdoppeln oder sogar verdreifachen. Dies würde vor allem dann geschehen, wenn Strom verstärkt für die Prozesswärmeerzeugung eingesetzt wird. Auch die Umstellung von wichtigen Prozessen der Chemie- und Stahlindustrie auf Elektrolyse-Wasserstoff gehen mit einem höheren Stromverbrauch einher.

Somit verlangt eine 95-prozentige Reduktion der Treibhausgase und damit eine nahezu CO2-neutrale industrielle Produktion bis 2050 grundlegende Änderungen entlang der Wertschöpfungskette. Dazu gehören die Verbreitung CO2-arm produzierter Zementsorten, ein effizienter Materialeinsatz und eine umfassende Kreislaufwirtschaft. Auch die Abscheidung und Speicherung von CO2 kann eine Rolle spielen, um beispielsweise verbleibende Emissionen bei der Herstellung von Zementklinker und Kalk zu mindern.

Förderung CO2-neutraler Herstellungsprozesse

Doch laut Studie ist mit den heute verfügbaren Technologien und dem bestehenden regulatorischen Rahmen die ambitionierte Transformation nicht möglich. „Bereits zwischen 2020 und 2030 müssen neue Technologien Marktreife erlangen, die Infrastruktur gebaut und der regulatorische Rahmen angepasst werden“, betont Dr. Tobias Fleiter, Projektleiter am Fraunhofer ISI. „Hierfür braucht es einen umfassenden Instrumentenmix, der unter anderem die Forschung und Entwicklung für CO2-neutrale Herstellungsprozesse sowie die Schaffung von Nischenmärkten für CO2-arme Grundstoffprodukte fördert. Zentral ist, nicht nur die Grundstoffindustrie selbst zu verändern, sondern die gesamte Wertschöpfungskette einzubeziehen…“

…Besonders die Bauwirtschaft sollte sich als größter Nachfrager von CO2-intensiven Produkten wie Stahl, Zement und Glas daran orientieren, wieviel Emissionen bei der Herstellung ausgestoßen werden. Deshalb müssten die Kosten der CO2-Emissionen in der Produktverwendung eingepreist werden.“

Innovationsfonds von Bedeutung

Ein wesentlicher Schritt zur Entwicklung CO2-neutraler Herstellungsprozesse ist der Innovationsfonds (IF), den die EU-Kommission derzeit vorbereitet: Ab 2021 soll er Einnahmen aus dem Emissionshandel unter anderem für die Forschung und Entwicklung zur Dekarbonisierung der Industrie bereitstellen.

Deshalb standen die Konzeption und Ausgestaltung des IF sowie dessen Auswirkungen auf Umwelt und Wirtschaft im Rahmen einer weiteren Studie im Fokus. Diese führte das Fraunhofer ISI in Kooperation mit Ecofys (heute: Navigant) ebenfalls im Auftrag der EU-Kommission durch. Für Projektleiter Prof. Dr. Wolfgang Eichhammer vom Fraunhofer ISI ist der IF „…ein wichtiger Schritt zur Förderung innovativer CO2-neutraler Industrieprozesse: Der CO2-Preis im Emissionshandel reicht trotz des kürzlichen starken Anstiegs in absehbarer Zeit allein nicht aus, um die Wirtschaftlichkeit dieser neuen Technologien zu erreichen. Daher scheuen sich Unternehmen, die im weltweiten Wettbewerb stehen, diese Technologien in großem Maßstab in die industrielle Anwendung zu bringen. Der weiter steigende CO2-Preis wird jedoch in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten die heutigen Standardtechnologien, die auf fossilen Energieträgern beruhen, zunehmend unwirtschaftlich machen. Der IF ist daher ein wichtiger Baustein, um in der Anfangsphase diese Technologien wirtschaftlich zu machen und das Risiko für die Unternehmen zu senken.“

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