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Rund drei Millionen Tiere, von Maus bis Vogel bis Fisch zu Affe, Kuh oder Hund, werden in Deutschland pro Jahr für Tierversuche in der Wissenschaft eingesetzt. Davon wurden 2019 laut Zahlen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ca. 47 Prozent in der Grundlagenforschung und etwa 13 Prozent in der Erforschung von Erkrankungen von Menschen und Tieren verwendet. Etwa 22 Prozent wurden bei der Herstellung oder Qualitätskontrolle von medizinischen Produkten oder für toxikologische Sicherheitsprüfungen benötigt, rund 18 Prozent für sonstige Zwecke, wie zum Beispiel zur Aus- oder Weiterbildung oder für die Zucht von genetisch veränderten Tieren.

Am 8. Februar 2021 hat das Land Baden-Württemberg nun ein landesweites Hochschulnetzwerk zur Verbesserung des Tierschutzes in Forschung und Lehre gegründet, das mit 3,8 Millionen Euro gefördert wird. So sollen Tierversuche künftig “vermieden, verringert und verbessert” werden. Eines der geförderten Projekte ist das Netzwerk 3R-US der Universität Stuttgart und des Robert-Bosch-Krankenhauses Stuttgart. Die beiden Partner wollen eine ex-vivo Tumorgewebe-Plattform als Ersatz für Tierversuche entwickeln. In Vordergrund stehen molekulare Diagnostik, Biomaterialien und Simulation.

Tierversuche nach und nach ersetzen

Am Ende sollen auf einer Plattform für die Krebsforschung Technologien und Analysemethoden zur Verfügung zu stehen, “die auf primärem Tumorgewebe vom Menschen basieren und Tierversuche nach und nach ersetzen”. Eine Gruppe um Prof. Monilola Olayioye vom Institut für Zellbiologie und Immunologie (IZI) der Universität Stuttgart erforscht, wie Signalnetzwerke von Onkogenen, die das Tumorwachstum fördern mit Tumor-Suppressoren zusammenspielen, die es unterdrücken. Derartige Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass Krebszellen sich unkontrolliert vermehren und ausbreiten. Um diesen Prozess zu stoppen und den Tumor zu zerstören, müssen geeignete Angriffsstellen gefunden werden, an denen neue Wirkstoffe andocken können, die diese Mechanismen außer Kraft setzen.

“Wenn wir solche Stoffe mit möglichst wenigen oder irgendwann ganz ohne Versuchstiere testen wollen, müssen wir den komplexen Organismus eines Tumors so realistisch wie möglich abbilden“, beschreibt Olayioye die Herausforderung. Bisher sei das nur sehr begrenzt möglich. Bei Tests in der Petrischale mit isolierten Krebszellen in einer Nährstofflösung werde der potenzielle Wirkstoff den Zellen direkt zugeführt. Mit den normalen Verteilungsprozessen im menschlichen Körper hat das allerdings nur wenig zu tun. Testsysteme, bei denen menschliche Tumorzellen oder -gewebe in Mäuse implantiert werden und dort weiterwachsen, sind jedoch auch nicht der Weisheit letzter Schluss, da sie die Kommunikation zwischen Krebs- und Immunzellen im Menschen ebenfalls nicht abbilden.

Ex vivo, de novo und in silico

Die Forscher suchen deshalb nach Systemen, in denen Tumorzellen dreidimensional wachsen und mit anderen Zelltypen interagieren können. 3R-US baut auf drei Ansätzen aus: ex vivo, de novo und in silico. Bei ex vivo werden Wirkstoffe außerhalb des Organismus nicht an einzelnen Zellen, sondern an Gewebeproben getestet. Nachdem dieses Gewebe, selbst wenn es kontinuierlich mit Nährstoffen versorgt wird, aber nur einmal verwendet werden kann, setzt das Team von 3R-US auf die sogenannte De-novo-Technologie. Dabei werden mit 3D-Druck-Verfahren gewebeähnliche Strukturen aus Biomaterialien und Zellen angefertigt, die dann in winzigen Kammern (einem mikrofluidischen System), die eine dosierte Zufuhr von Wirkstoffen erlauben, kultiviert werden.

“Mit Hilfe solcher Mikrosystemtechnologien können wir verschiedene biologische Strukturen wie Legosteine so zusammenbauen, dass sie den entsprechenden Tumor nachbilden“, erklärt Michael Heymann, Juniorprofessor am Institut für Biomaterialien und biomolekulare Systeme der Universität Stuttgart. Die bei den Ex-vivo- und De-novo-Tests gewonnen Daten sollen dann in den Aufbau und die Validierung von In-silico-Modellen einfließen. Das bedeutet, durch Modellierungen und Simulationen sollen gemeinsam mit Simulationsexperten realistischere Prognosen zur Wirkstoffverteilung ermöglicht werden.

Institutionsübergreifendes 3R-US-Netzwerk

“Wenn wir die besten Wirkstoffkandidaten schon in Ex-vivo-Kultursystemen herausfiltern, können wir die Zahl der Versuchstiere für die abschließenden präklinischen Tests deutlich verringern“, sagt Prof. Roland Kontermann am IZI. “Um Tierversuche ganz zu ersetzen, bieten De-novo- und In-silico-Modelle in Zukunft große Potenziale.“

Das Wissen aus Hochschule und Klinik soll in den nächsten fünf Jahren in einem institutionsübergreifenden 3R-US-Netzwerk zusammengefasst werden. Dadurch sollen Synergien zwischen den biotechnologischen und medizintechnischen Expertisen herstellt und ein Angebot geschaffen werden, “mit dem auch Studierende frühzeitig für die Thematik sensibilisiert werden können”.

Titelbild: Durch Hochpräzisions-3D-Druck lassen sich komplexe Trägerstrukturen (grau) erzeugen und mit Zellen besiedeln (rot). Die hier dargestellte Mikrostruktur ist etwa so breit wie ein menschliches Haar. Diese Technik soll zur detailgetreuen Nachbildung von Tumorgeweben genutzt werden.
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