Ein Philosoph und eine Sportwissenschafterin konnten beweisen, dass Burnout-Erkrankte an einer entgleisten Zeiterfahrung leiden. Die Sport-Therapie, die sie entwickelten, soll deren Umgang mit der Zeit wieder stabilisieren.
Experten gehen davon aus, dass etwa zweiundzwanzig Prozent der Österreicher von Burnout betroffen sind. Manche sprechen schon von epidemischen Ausmaßen. Per Definition handelt es sich bei Burnout nicht um eine Erkrankung, sondern um Probleme und Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung. Zentrale Symptome sind tiefe Erschöpfung und ein Mangel an Lebenssinn, Vitalität und Antrieb. Betroffene erleben einen Leistungsabfall und einen Verlust des Selbstwertgefühls. Körperlich kommt es zu Beschwerden des Herz- Kreislauf- oder Atemsystems, zu Schlafstörungen, Problemen mit der Verdauung und dem Immunsystem sowie zu Schmerzen im Halte- und Muskelapparat.
Beschleunigungsspirale
Die steigende Tendenz zu Burnout wird auf die Umstände in der modernen Arbeitswelt zurückgeführt, aber auch ganz allgemein auf die Beschleunigungsspirale, die schon die gesamte Gesellschaft erfasst hat – durch die Rasanz technischer Fortschritte, die Kommunikation in Echtzeit über digitale Kanäle und die geforderte Flexibilisierung.
Trotz gesellschaftlicher Zwänge: Was die Stabilität des Einzelnen bestimmt, ist wesentlich vom persönlichen Umgang mit der Zeit bestimmt, sagt der Philosoph Reinhold Esterbauer. Der persönliche Umgang mit der Zeit wirkt sich auf die individuelle Organisation und Orientierung der Person aus und setzt die ihr eigenen Strukturen.
Zeit-Krankheit
Die in den Körper eingeschriebenen zeitlichen Strukturen sind zum Beispiel beim Einschlafen oder Aufwachen besonders spürbar. Speziell das Ermüden sei eine Folge des individuellen Rhythmus, so Esterbauer:
„Wir kennen alle die Situation, dass wir abends im Bett unbedingt noch ein paar Seiten lesen wollen, uns aber die Augen zufallen. Der Leib ist stärker und raubt uns vorübergehend das Bewusstsein.“ Daraus schließt er, dass Burnout eine Zeit-Krankheit ist, eine Störung der regelmäßigen Abläufe. Wenn dem nicht so wäre, könnten Betroffene bewusst dagegen ankämpfen.”
Diese Annahme bestätigte sich in einer empirischen Untersuchung in der Reha-Klinik Graz, die er gemeinsam mit der Sportwissenschafterin Andrea Paletta durchführte. Dabei konnte klar bewiesen werden, dass Burnout-Betroffene unter einer entgleisten Zeiterfahrung leiden, die sich nicht nur mit einem Gefühl der Zeitknappheit sondern auch in körperlichen Symptomen zeigt. Anzeichen sind deregulierte Atem-, Herz- und Schlaf-Rhythmen, ein verändertes Bewegungsmuster und eine veränderte Wahrnehmung des eigenen Körpers.
„Leitete man Ausgebrannte an, sich frei im Turnsaal zu bewegen, gingen diese antriebslos und monoton eine Linie entlang. Gesunde hingegen nutzten wesentlich mehr Raum, waren schwungvoll und machten variantenreichere Bewegungen.“ Andrea Paletta.
Zentrale Erkenntnis war, dass Burnout-Betroffene nur eine geringe Empfänglichkeit für ihre eigenen Körpersignale, ihren Antrieb, ihre körperlichen Bedürfnisse zeigen.
Sport-Therapie
Der Sport-Therapie, die das Team entwickelte, liegen drei Dimensionen von Zeit zugrunde, die bei Burnout-Betroffenen entgleisen: die Eigenzeit, die intersubjektive Zeit und der Antrieb:
Eigenrhythmus
Der Körper weist eine Reihe von Rhythmen auf – von Nervenimpulsen über Herzschlag und Atmung bis hin zu Schlaf-/Wachrhythmus und jahreszeitlichen Rhythmen. Ein Ignorieren des persönlichen Rhythmus führt zur Destabilisation der körperlichen und seelischen Gesundheit. Burnout-Betroffene wollen stets verfügbar sein und allen Ansprüchen gerecht werden. Sie neigen zu Überaktivität und Überanstrengung.
In den Übungen werden die Eigenrhythmen aktiviert. Zentral: der Atem als Taktgeber. Darüberhinaus werden zyklische Bewegungsformen empfohlen, die im Wohlfühltempo ausgeführt werden: Laufen, Radfahren, Schwimmen, Rudern , …
Gegenwartspräsenz
Eine weitere Variante Eigenzeit zu erleben, realisiert sich in der Hingabe an den Augenblick, in der selbstvergessenen Ausführung von Spielen, freiem Tanz, Entspannungstechniken und risikobehafteten Aktionen. Burnout-Betroffene weisen eine permanente Bezugnahme auf die Zeit auf. Es fällt ihnen schwer, sich im Augenblick zu verorten. Bezugspunkte werden vorwiegend in der Zukunft und in der Vergangenheit gesucht.
In den Übungen liegt der Fokus auf Konzentration im Hier und Jetzt – wie diese bei Gleichgewichts-, Wahrnehmungs- und Entspannungstechniken gefordert ist. Es handelt sich um Techniken, die nicht rationell gewollt werden können, sondern instinktiv vom Körper veräußert. Darüberhinaus sind auch Praxen wie Yoga oder Tai Chi zum Experimentieren mit Gegenwartspräsenz geeignet.
Intersubjektive Zeit
Unter intersubjektiver Zeit wird die Abstimmung verschiedener Zeiten zwischen Mensch und Umgebung verstanden. Zwei Erfahrungen sind möglich: Synchronisation und Desynchronisation von Zeit:
- Bei Synchronisation erfolgt eine Rückmeldung auf das Gegenüber sowie eine Abstimmung mit dessen Zeitstruktur und die Adaption dieser.
- Bei Desynchronisation vollzieht sich ein Bruch zwischen eigener Zeit und der des Gegenübers. Die Zeiten sind verschieden und nicht kompatibel. Burnout-Betroffene nehmen sich stets als zu langsam, oder als zu schnell wahr. In beiden Fällen bricht ein charakteristisches Gefühl innerer Getriebenheit und Unrast aus.
Burnout-Betroffene sind überdurchschnittlich um Synchronisation bemüht – um Resonanz mit ihrer Umgebung. Die eigenen Bedürfnisse werden zurückgestellt. Dahinter steckt ein Drang nach vereinigter Zeit und gemeinsam verbrachten Rhythmen. Durch die Aufgabe des Eigenrhythmus wird das eigene Lebensmuster übergangen, die Kapazitäten überfordert und die Gesundheit zerstört.
Die Übungen sind geprägt von einer Polarität zwischen Synchronisation und Desynchronisation. Für den Wechsel von Eigen- und Fremdrhythmen bieten sich vor allem Ballspiele an, in denen man erst versucht, sich an den Rhythmus des Gegners anzupassen, um bei Ballübernahme rasch in den Eigenrhythmus zu wechseln.
Antrieb
Wenn Energie mobilisiert wird, um zu handeln, spricht man von Antrieb. Intensität und Ausmaß des Antriebs sind durch drei Aspekte begründet: die innere Verfassung, die persönlichen Präferenzen und den äußeren Kontext. Aspekte, die vernetzt und wechselseitig aufeinander bezogen sind.
Bei Burnout gerät der Erkrankte in eine Abwärtsspirale: Je weniger Sinn er in der Tätigkeit sieht, desto mehr muss er sich überwinden und desto mehr Energie benötigt er, mit der Tätigkeit fortzufahren.
Die Übungen sollen die Mobilisierung des Eigenantriebs und die Sensibilisierung auf die eigenen Körperimpulse anregen. Lustvolles Boxen und Tanzen soll den Abbau von Spannungen und den Aufbau regenerativer Kräfte bewirken. Sport ermöglicht aber auch das Training des Antriebs: durch die Variation von Intensitäten, Anstrengungsgrade, Bewegungsdauer sowie Bewegungsdynamik.
Das Projekt lief unter dem Titel Bodytime und wurde vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanziert. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse wurde in Buchform veröffentlicht: Esterbauer, R./Meer, J./Paletta, A. (2019): Der Leib und seine Zeit. Karl Alber Verlag.
Auch die Übungen für Burnout-Betroffene wurden in Buchform veröffentlicht: Gotthalmseder, D./ Kohlmaier, D./ Paletta, A. (2019): Leben mit aller Zeit der Welt. Körperliche Aktivität zur Prävention und Rehabilitation von Burnout – ein Übungsbuch. Die Inhalte sind online abrufbar. Den Link finden Sie hier
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