Das menschliche Gehirn kann aus der Erfahrung auf Zukünftiges schließen – auch wenn es um die Vorhersage von Tonhöhen geht. Jetzt fanden Wissenschafter heraus, dass sich erwartete Tonhöhen in der Gehirnaktivität niederschlagen. Die individuellen Muster konnten aufgrund eines neu entwickelten Algorithmus erkannt werden. Die Befunde könnten die Tinnitus-Forschung voranbringen.
Menschen bewegen sich ständig in komplexen Umgebungen. Das fordert die Wahrnehmung – auch wenn es um das Hören – insbesondere von Tonhöhen geht. Um rasche Orientierung zu ermöglichen, nimmt das menschliche Gehirn eine Erwartungshaltung ein. Wobei vergangene Erfahrungen sind, die das Gehirn Regelmäßigkeiten im Reizstrom erkennen lassen, um akustische Ereignisse vorherzusagen. Das Gehirn extrahiert die Regeln, die zum Beispiel hinter bestimmten Tonsequenzen stehen. Diese Vorhersagen sind nicht bewusst gesteuert, sondern stellen einen automatischen Prozess dar, erklärt der Neurowissenschafter Gianpaolo Demarchi, vom Centre for Cognitive Neuroscience (CCNS) an der Universität Salzburg.
Er uns sein Team wollten herausfinden, ob Töne merkmalsspezifische Aktivitätsmuster im Gehirn hervorrufen. Das heißt, ob eine erwartete Tonhöhe X mit einem anderen neuronalen Muster verbunden ist, als eine erwartete Tonhöhe Y.
Vorhersagbare Tonhöhen
Die Tests wurden an 33 gesunden Probanden durchgeführt. Grundlage war die Erstellung von Sequenzen aus vier Tönen unterschiedlicher Höhe. Herausforderung war es, Sequenzen mit mehr oder weniger vorhersagbaren Tonhöhen zu schaffen. Weshalb man die Höhe eines Tons jeweils mit einer definierten Wahrscheinlichkeit vom vorangegangenen Ton abhängig machte.
Um die zeitliche Erwartung in allen Tonsequenzen einheitlich zu gestalten, wurden die Töne den Probanden mit genau 333 Millisekunden Abstand präsentiert. Dadurch war deren einzig wahrnehmbare Veränderung jene der Tonhöhen.
Die Probanden wurden dem Hörerlebnis während eines 90-minütigen stumm geschalteten Films ausgesetzt. Sie hatten keine Aufgaben zu lösen. Es ging lediglich um die Erfassung ihrer Gehirntätigkeit mittels Magnetoenzephalographie (MEG). MEG ist eine zeitlich hochauflösende Methode, mit der die magnetische Aktivität des Gehirns von außen mit Sensoren gemessen wird.
Mustererkennung durch Algorithmen
Um die unterschiedlichen Tonhöhen anhand der neuronalen Aktivitätsmuster zu messen, trainierten die Forscher Algorithmen mit den möglichen Mustern.
In den Ergebnissen zeigte sich, dass
- tonhöhenspezifische neuronale Muster schon 300 Millisekunden vor dem erwarteten Zeitpunkt der Tondarbietung aktiviert wurden.
- auch ausgelassene Töne eine tonhöhenspezifische neuronale Aktivität des erwarteten Tons hervorriefen. Das Muster glich jenem des dargebotenen Tons und war sogar noch stärker als jener.
Beitrag zur Tinnitus-Forschung
Dieser Befund kann genutzt werden, um interindividuelle Unterschiede der Vorhersageprozesse beim Hören zu untersuchen. Diese sind besonders in der Tinnitus-Forschung sehr relevant, erklärt Projektleiter Nathan Weisz, Professor für Physiologische Psychologie ist Leiter der Auditory Neuroscience Group am Center for Cognitive Neuroscience (CCNS) der Universität Salzburg.
Er weiß, dass
- nicht jede Person, die eine Hörschädigung erleidet, Tinnitus erlebt.
- nicht jede Person, die akuten Tinnitus hat, diesen Zustand auch chronisch ausbildet.
Das eben abgeschlossene Projekt bietet möglicherweise einen Erklärungsansatz für den Unterschied zwischen den Individuen.
Laufende Forschungsarbeiten deuten bereits darauf hin, dass Tinnitus-Patienten dramatisch veränderte Vorhersageprozesse aufweisen. Diese haben eine ausgeprägte Fähigkeit, Regelmäßigkeiten zu erkennen und diese für Vorhersagen zu nutzen. In schwierigen Hörsituationen, wie etwa starkem Hintergrundlärm, ist dies von Vorteil. Allerdings sei damit auch die Disposition verbunden, nach einer Hörschädigung Tinnitus auszubilden, so Weisz.
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