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Mehr als eines von einhundert Kindern ist von der sogenannten Autismus-Spektrum-Störung betroffen, einer der häufigsten neurologischen Entwicklungsstörungen. Diese Menschen haben Probleme mit der “Theory of Mind”, d.h. mit anderen zu interagieren und deren die Gefühle, Wünsche, Ideen, Absichten, Erwartungen, Meinungen und Motive erkennen und verstehen zu können. Wachsen autistische Kinder in zweisprachigen Familien auf, tendieren die Eltern häufig dazu, sich nur auf eine der beiden Sprachen zu konzentrieren und auf die andere zu verzichten. So wollen sie die kommunikativen Fähigkeiten ihrer Kinder nicht überfordern.

Gemeinsam mit Kollegen der Universitäten von Thessalien (Griechenland) und Cambridge (Großbritannien) hat eine Forscherin der Universität Genf (UNIGE, Schweiz) nun aber gezeigt, dass genau das Gegenteil autistischen Kindern hilft. Durch Zweisprachigkeit fällt es ihnen leichter, Defizite in der Theory of Mind teilweise zu kompensieren.

Vorteile von Zweisprachigkeit

Die Intensität der Symptome würden bei verschiedenen Menschen zwar stark variieren, erklärt Stéphanie Durrleman, Forscherin in der Abteilung für Linguistik an der UNIGE Faculty of Arts und Mitautorin der Studie. “Was Kinder mit Autismus aber gemeinsam haben, ist, dass sie Schwierigkeiten haben, sich in ihren Gesprächspartner hineinzuversetzen, sich auf dessen Sichtweise zu konzentrieren und so ihre Aufmerksamkeit von ihrer eigenen Perspektive abzuziehen”, betont sie.  Autismus würde also nicht nur Fähgkeiten beeinträchtigen wie das Verstehen der Überzeugungen, Emotionen, Absichten und Wünsche anderer, sondern oft auch die sogenannten Exekutivfunktionen, einschließlich Aufmerksamkeit.

Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass Kinder ohne Autismus, die mehrsprachig aufwachsen, im Vergleich zu einsprachigen Kindern bessere Fähigkeiten sowohl in der Theory of Mind als auch bei den Exekutivfunktionen haben. “Zweisprachigkeit scheint also genau dort Vorteile zu bringen, wo das autistische Kind Schwierigkeiten hat”, sagt Stéphanie Durrleman. “Wir haben uns daher gefragt, ob zweisprachige autistische Kinder es schaffen, die Schwierigkeiten ihrer neurologischen Entwicklungsstörung abzumildern, indem sie jeden Tag zwei Sprachen benutzen.”

Gehirntraining

Für ihre Studie untersuchten die Wissenschaftler 103 autistische Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren, von denen 43 zweisprachig waren. “Um die tatsächlichen Auswirkungen der Zweisprachigkeit auf ihre sozio-kommunikativen Fähigkeiten zu beobachten, gruppierten wir sie nach Alter, Geschlecht und der Intensität ihrer autistischen Störung”, erklärt Eleni Peristeri, Forscherin an der medizinischen Fakultät der Universität Thessalien und Mitautorin der Studie.

Die Kinder mussten verschiedene Aufgaben lösen, um ihre Fähigkeiten im Bereich der Theory of Mind und der Exekutivfunktionen zu beweisen. Dabei erreichten die zweisprachigen Kinder durchweg höhere Punktzahlen als ihre einsprachigen Altersgenossen. “Bei Aufgaben zur Theory of Mind, also der Fähigkeit, das Verhalten einer anderen Person zu verstehen, indem man sich in sie hineinversetzt, gaben die zweisprachigen Kinder 76% richtige Antworten, verglichen mit 57% bei den einsprachigen Kindern”, sagt die griechische Forscherin. Dasselbe zeigte sich bei den Exekutivfunktionen. Hier war Punktzahl für korrekte Antworten bei den zweisprachigen Kindern doppelt so hoch wie bei den einsprachigen.

“Die Zweisprachigkeit verlangt vom Kind, dass es zunächst an Fähigkeiten arbeitet, die direkt mit der Theory of Mind zusammenhängen, d.h. es muss sich ständig mit dem Wissen anderer beschäftigen: Spricht mein Gesprächspartner Griechisch oder Albanisch?”, erläutert Eleni Peristeri den großen Unterschied der Ergebnisse. “In welcher Sprache soll ich mit ihm oder ihr sprechen? In einer zweiten Phase nutzt das Kind dann seine exekutiven Funktionen, indem es seine Aufmerksamkeit auf eine Sprache richtet, während es die zweite hemmt.” Das sei echtes Gehirntraining, das sich genau auf die Defizite auswirke, die mit der autistischen Störung verbunden sind. “Aus unseren Auswertungen geht klar hervor, dass Zweisprachigkeit für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen sehr vorteilhaft ist”, freut sich Stéphanie Durrleman.

Bessere Fähigkeiten trotz sozioökonomischer Benachteiligung

Im Rahmen der Studie wurde auch der sozioökonomische Hintergrund der Kinder erfasst, um sicherzustellen, dass dieser bei den Ergebnissen keine Rolle spielte. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass die zweisprachigen Kinder meist in einem niedrigeren sozioökonomischen Umfeld lebten als die einsprachigen. “Wir können also bestätigen, dass sich bei Bilingualen Vorteile in der Theory of Mind und den exekutiven Funktionen zeigen, auch wenn eine sozioökonomische Benachteiligung vorliegt”, sagt der Durrlemann.

Diese Erkenntnisse seien wichtig für die Betreuung von Kindern, bei denen Autismus diagnostiziert wurde, betont die Schweizer Forscherin. “Da diese neurologische Entwicklungsstörung häufig den Spracherwerb beeinträchtigt, neigen zweisprachige Familien dazu, den Gebrauch einer der beiden Sprachen aufzugeben, um den Lernprozess nicht zu verschlimmern”, sagt sie. “Es ist jetzt jedoch klar, dass Zweisprachigkeit autistische Kinder keineswegs in Schwierigkeiten bringt, sondern im Gegenteil diesen Kindern helfen kann, verschiedene Aspekte ihrer Störung zu überwinden, und als eine Art natürliche Therapie dient.”

Diese Ergebnisse der Studie wurden in der Zeitschrift Autism Research veröffentlicht.

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