Das Thema Trauma und dessen Folgen ist allgegenwärtig – und das nicht nur bei Erwachsenen und auch nicht erst seit Beginn der jüngsten Flüchtlingskrise 2015. Traumata erleben auch Kinder und Jugendliche, die in einer scheinbar sicheren Umgebung aufwachsen. Laut einer 2016 vom Bundestag in Auftrag gegebenen Studie lag die Zahl der Menschen (Kinder, Jugendliche und Erwachsene), die wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in eine Klinik eingewiesen wurden, im Jahr 2000 noch bei 3.889. Im Jahr 2014 waren es bereits 12.135. Das AOK-Institut fand bei einer späteren Befragung heraus, dass insbesondere bei Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan die Zahl der Traumata nach Gewalterlebnissen bei rund 75% liegt.
Die Folgen können sich sowohl psychisch als auch physisch zeigen. Mutlosigkeit, Traurigkeit, Bedrückung , Nervosität und Unruhe oder auch Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen gehören zu den am häufigsten angegebenen Beschwerden. Wie aber bestimmen diese Stress- und Gewalterfahrungen die Erinnerung bei jungen Menschen? Können bestimmte psycho-physiologische Mechanismen in Bezug auf Gewalt und Trauma die „funktionale Organisation von Gehirn und Geist“ nachhaltig so verändern, dass es für den Menschen selbst und auch die Gesellschaft problematisch werden kann?
Mit diesem Problem beschäftigen sich Wissenschaftler der Universität Konstanz im Rahmen des vom Europäischen Wissenschaftsrats (ERC) geförderten Projekts „Memo TV“ (Memories of Traumatic Stress and Violence). Die zentrale Frage der Forscher dreht sich um die spezifischen Erinnerungsstrukturen, die sich unter Einwirkung von Gewalterfahrung aber auch Gewaltausübung in die Organisation des Gehirns einprägen.
Weltweite Untersuchungen
Die Wissenschaftskooperation unter Leitung des Konstanzer Neuropsychologen Thomas Elbert untersuchte dazu die Erinnerungen von traumatischem Stress und Gewalt Betroffener in vier unterschiedlichen kulturellen Kontexten: an der deutschen Flüchtlings- und Traumaambulanz, in den Favelas von Rio de Janeiro, den Townships von Südafrika und einem burundischen Friedenskorps. Im Laufe des Projekts wurde dann die vom Team über Jahrzehnte weiterentwickelte „Narrative Expositionstherapie“ (Narrative Exposure Therapy) an die Bedürfnisse junger Überlebender von Traumata und Gewalt angepasst. Dabei fanden sie heraus, dass ehemalige Kindersoldatinnen und -soldaten, die in Kriegs- oder Krisengebieten einem terroristischen und gewaltbereiten Umfeld ausgesetzt sind, oft unter besonders schweren emotionalen und anderen Verhaltensproblemen leiden.
„Trauma-bezogene psychische Erkrankungen sind keine typischen Angststörungen oder Angstkonditionierungen, sondern vielmehr eine Folge dessen, wie das menschliche Gedächtnis organisiert ist“, erläutert Thomas Elbert. Das zeige sich insbesondere an jungen Migrantinnen und Migranten. Sie bringen solche Trauma-bedingte Störungen in ihre neue Umgebung mit: Impulsivität, Misstrauen, Konzentrationsschwäche, mangelndes Selbstwertgefühl, Traumafolgesymptome bis hin zu hoher Gewaltbereitschaft und anderen Probleme.
All diese Folgen erschweren natürlich eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft der neuen Heimat, weil sie den Anforderungen an Leistung, Kognition und Sozialverhalten nicht gerecht werden können. Die Folgen für Individuum und Gemeinschaft seien in mehrerer Hinsicht weitreichend und äußerst bedeutsam, betonen die Wissenschaftler: Sowohl humanitär, gesellschaftspolitisch für den sozialen Frieden, als auch wirtschaftlich. „Zur Prävention dieser negativen Auswirkungen oder zumindest deren Minderung kann die mögliche Anwendung der Forschung zu Stress und Gewalt aus dem Konstanzer Projekt ‚Memo TV‘ einen Beitrag leisten.“
Europaweite Anwendung als Ziel
Elbert und seine Kollegen hoffen, dass der neue Hilfenplan einen Beitrag dazu leisten kann, die psychische Gesundheit und Genesung traumatisierter Jugendlicher größtmöglich zu unterstützen: „Wir möchten erreichen, dass sie ihre Berufsfähigkeit, ihren sozialen Status sowie ihre Autonomie bei Entscheidungen und Zukunftsmöglichkeiten wiedererlangen“. Das Projektverfahren wird im ersten Jahr über das Bodensee-Institut für Psychotherapie (bip) an der Universität Konstanz durchgeführt. Längerfristig haben sich die Wissenschaftler jedoch ein Modell zum Ziel gesetzt, das europaweit angewendet werden kann.
Elbert und seine Projektpartner erhalten 2019 den mit 150.000 Euro dotierten „ERC Proof of Concept Grant“ des Europäischen Wissenschaftsrats für die Anwendung der gemeinsamen Forschung zu Trauma und Gewalt aus dem Projekt „Memo TV“. Damit können jetzt die nächsten Schritte für den Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die therapeutische Praxis erfolgen. Dazu wird als erstes ein gestufter Hilfenplan für die psychotherapeutische Behandlung entwickelt. Er richtet sich speziell an junge Geflüchtete in der EU, die massiver Gewalt ausgesetzt waren und somit auch oft selbst eine erhöhte Gewaltbereitschaft aufweisen.
Der Europäische Wissenschaftsrat hat seine „Proof of Concept Grants“ 2019 an 54 Projekte vergeben. Die renommierte Auszeichnung unterstützt den Transfer bereits geförderter ERC-Forschungsprojekte in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Die Zuschüsse stammen zu Teil von „Horizon 2020“, dem Forschungs- und Innovationsprogramm der EU. Die ausgezeichneten Projekte decken alle Bereiche der Wissenschaft ab.
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