Zwei Drittel der Flächen in Wien sind Autos gewidmet, die 98 Prozent ihrer Zeit auf Parkplätzen stehen. Um den öffentlichen Raum zurückzugewinnen, will die 1,9 Millionen Einwohner Stadt den Anteil des motorisierten Individualverkehrs reduzieren: von derzeit 29 auf 20 Prozent. Als mögliche Maßnahme gelten Superblocks, die erstmals in Barcelona entwickelt und umgesetzt wurden.
Bei Superblocks werden mehrere Häuserblocks zu einer großen Begegnungszone zusammengefasst. Der Autoverkehr wird in Hauptverkehrsadern am Rand des Blocks entlanggeführt. Durch diese Verkehrsberuhigung soll das Leben in Städten wieder lebenswert werden. Gleichzeitig will man damit dem Klimawandel entgegen wirken, indem man CO2-Emissionen reduziert und die wegfallenden Parkplätze in Grünfläche umwidmet. Asphalt heizt sich im Sommer bei Sonneneinstrahlung auf bis zu 60 Grad auf. Mit Grünflächen kann man diesen Wärmeinseleffekten entgegenwirken.
Ein Fünfjahres-Projekt in Gent belegt die positiven Effekte von Superblocks: Die Zahl der Radfahrer stieg um ein Viertel und die Zahl der Nutzer des öffentlichen Verkehrs um neun Prozent. Im Gegenzug ging der Autoverkehr um zwölf Prozent zurück. Dadurch kam es zu weniger Stau und Verkehrsunfällen und die öffentlichen Verkehrsmittel konnten ihren Fahrplan mühelos einhalten.
Superblocks in Barcelona zeigten allerdings auch unerwartete Nebeneffekte. Es kam zu einer Gentrifizierung, die zu einer Erhöhung der Mietpreise führte: Erst kamen die Touristen, dann teure Boutiquen und dann die Immobilienmakler. Außerdem zeigte sich, dass Superblocks nicht immer die Erwartungen der Bevölkerung treffen.
Die TU Wien untersuchte gemeinsam mit dem AIT Austrian Institute of Technology und dem Urban Consultant Florian Lorenz, inwiefern Superblocks in Wien sinnvoll sein könnten. In dem Sondierungsprojekt wurden die verkehrlichen Auswirkungen mit automatisierten räumlichen Analyseverfahren quantifiziert. Im Interview mit Innovation Origins spricht Dr. Stefan Seer, Thematic Coordinator Integrated Mobility Systems am AIT, über das Forschungsprojekt und den Umgang mit möglichen negativen Effekten:
Wie ist Ihre Forschungsgruppe an das Sondierungsprojekt herangegangen?
Es sind zwei Aspekte, die für die Umsetzung von Superblocks relevant sind. Der eine ist die Auswahl von möglichen Kandidaten und der andere ist die Gestaltung und Modellierung der verkehrlichen Auswirkungen durch den Superblock. Für die Auswahl von Kandidaten gibt es verschiedene Voraussetzungen. Zum Beispiel darf das öffentliche Verkehrsnetz nicht beeinträchtigt werden. Das heißt, Gebiete, die von Straßenbahnen und Bussen gequert werden, scheiden aus.
In der Gestaltung achten wir auf die verkehrlichen Auswirkung von Superblocks und versuchen die Attraktivität für den motorisierten Individualverkehr zu verringern. In Wien erreichen wir das mit Diagonalsperren an Kreuzungen. Wenn man Kreuzungen in Superblocks mit dem Auto nicht diagonal queren kann, verlängern sich die Wege um geschätzt fünf Minuten. Das kann schon zu einer Änderung der Verkehrsmittelwahl führen – vor allem bei kürzeren Wegen, die sehr gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden können.
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Mit unserer Modellierung konnten wir diesen Effekt beziffern: der Anteil an Autofahrten nimmt – gemessen am Modal Split – um drei bis neun Prozent ab. Modal Split bezeichnet die Verkehrsverteilung auf die einzelnen Verkehrsmodi. Zum Beispiel bewegen sich im Bezirk Wien Neubau 31 Prozent der Personen zu Fuß, fünf Prozent mit dem Fahrrad, fünf Prozent mit dem Auto und 59 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Superblock verlagert sich diese Verteilung. Drei Prozent der Autofahrer steigen auf die öffentlichen Verkehrsbetriebe um. Dadurch verringert sich der Anteil des Autoverkehrs auf zwei Prozent und der Anteil des öffentlichen Verkehrs steigt auf 62 Prozent.
Sie sprechen bei Superblocks von fußläufig erschließbar. Welcher Größe entspricht das – und unter welchen Voraussetzungen kann ein Ort zum Superblock werden?
Superblocks messen zwischen vier und 16 Hektar; ausgehend von einem Quadrat, sind das Kantenlängen von 200 bis 400 Metern. Voraussetzungen sind eine gewisse bauliche Kompaktheit und ein grundsätzlicher Bedarf. Orte, die weit von der nächsten Grünfläche entfernt sind, werden bevorzugt, weil man im Superblock Grünflächen erzeugen kann, die es vorher noch nicht gab. Weitere mögliche Kriterien sind zum Beispiel eine hohe Anzahl von Kraftfahrzeugen und eine geringe Gehsteigbreite. Das sind Daten, die in die von uns entwickelte Methode eingehen und die eine Geoinformationssystem- (GIS-) –basierte Identifikation von Kandidaten für Superblocks ermöglichen.
Was lässt sich an CO2-Emissionen einsparen?
Es lassen sich vor allem CO2-Emissionen aus dem Transportsektor einsparen. Inwieweit sich CO2-Emissionen aus der Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs einsparen lassen, muss mittel- und langfristig bewertet werden. Aber auch der prozentuale Rückgang im Autoverkehr kann in CO2-Emissionen umgerechnet werden. Unsere Modellierung hat gezeigt, dass wir durch Verkehrsverlagerungen eine Einsparung von 1 bis 3,7 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes einer durchschnittlichen Wiener Person erreichen können. Das mag auf die Person gerechnet nicht viel sein, kann aber schon eine deutliche Auswirkung haben.
Eine unerwünschte Folge von Superblocks ist, dass die Verkehrsverlagerung zur Verstopfung der umliegenden Straßen führen kann. Wie kann man dem entgegenwirken? Und: wo wird geparkt?
Auch das muss man mittel- und langfristig beobachten. Durch die veränderte Verkehrsverteilung nimmt die Attraktivität des motorisierten Individualverkehrs ab und Wege werden eingespart oder werden anders zurückgelegt. Das wirkt sich in der Folge auch auf die Anzahl der Autos und die benötigten Parkplätze aus. Bis zu einem gewissen Grad ist es dann durchaus gerechtfertigt, Parkplätze wegzunehmen, weil die Nachfrage gar nicht vorhanden ist.
Superblocks treffen nicht immer die Erwartungen der Anwohner. In den Niederlanden waren Anwohner zum Beispiel enttäuscht, weil sie ihr Auto nicht vor dem Haus parken konnten – und es dauerte Jahre bis die Anbindung an das öffentliche Verkehrssystem funktionierte. Wie denken Sie darüber?
Wenn die Einführung von Superblocks erfolgreich sein soll, dann braucht es Bürgerbeteiligung. Das hat schon das Beispiel Barcelona gezeigt – und Studien haben es bewiesen. Bürger müssen sich schon im laufenden Planungsprozess einbringen können, wenn breite Akzeptanz erreicht werden soll. Wobei die Partizipationsprozesse zunehmend durch neue Technologien unterstützt werden. Wir haben zum Beispiel mit Virtual Reality gearbeitet, um die veränderte Nutzung des öffentlichen Raums für die Bürger darstellen zu können. In Verbindung mit unserer Modellierung, konnten wir so die Auswirkungen von Verkehrsverlagerungen greifbar machen – und besser auf Fragen und Ängste der Anwohner eingehen. In diesen Partizipationsprozessen haben sich Anwohner aber auch aktiv für das Sperren von Straßen eingesetzt. Dadurch sind natürlich weniger Parkplätze vorhanden. Ob das funktionieren kann, muss man sich im Detail ansehen.
Wie kann man die Mobilität innerhalb des Superblocks gewährleisten?
Das Modell geht davon aus, dass man viele Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen kann. Der motorisierte Individualverkehr muss nicht komplett ausgeschlossen sein, aber es darf innerhalb des Superblocks keine Durchfahrtstraßen geben. Das würde den motorisierten Individualverkehr begünstigen. In unserem Superblock-Modell gibt es zur Unterstützung der Mobilität auch eine Mobilitätsstation, die an einem Verkehrsknotenpunkt liegt und das Sharing von Autos oder anderen Gefährten, wie E-Scootern, E-Fahrrädern oder normalen Fahrrädern anbietet. Außerdem haben wir am Rand des Superblocks einen Logistik-Hub positioniert, einen Anlieferpunkt für Waren und Pakete, die dann im Superblock mit einem Lastenfahrrad weiterverteilt werden können.
Superblocks in Barcelona wurden rasch gentrifiziert. Selbst ein Viertel, das zuvor heruntergekommen war und an einer hohen Kriminalitätsrate litt. Wie kann man das verhindern?
Verhindern ist vielleicht nicht der richtige Punkt. Bis jetzt wurden Superblocks in Städten nur punktuell etabliert. Wenn es in einer Stadt mehrere Superblocks gibt, dann kann es auch zu einer anderen Verteilung der Auswirkungen kommen. Davon gehen wir derzeit aus. Das Beispiel Barcelona wird es zeigen: Die Stadtregierung der 5,59 Millionen Einwohner Stadt will bis 2023 etwa 18 Superblocks umsetzen.
Barcelona wird bereits als potenzielle Post-Auto-Metropole gehandelt. Will das Modell des Superblocks das Auto abschaffen?
Superblocks sollen zu einer Verkehrsberuhigung führen. Dass es dabei zu weniger Autos kommt, ist ein Nebeneffekt, der sich durch die Wegeverlagerung und das veränderte Mobilitätsverhalten ergibt. Wichtig ist es, die Konnektivität zu den Superblocks herzustellen. zum Beispiel müssen Schulen von außen gut erreichbar sein. Innerhalb des Superblocks können Straßen dann temporär gesperrt werden, damit der Schulweg auch sicher ist.
Danke für das Gespräch.
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