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Seit dem 2. November 2020 befindet sich Deutschland in einem vierwöchigen „Lockdown Light“. Werden diese Maßnahmen ausreichen, um die Infektionszahlen mit dem SARS-CoV-2-Virus zu senken? Wissenschaftler des Forschungszentrum Jülich haben in Kooperation mit dem Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) nun anhand mathematischer Modelle, die schon im Lauf der ersten COVID-19-Welle für Vorhersagen entwickelt wurden, unterschiedliche Szenarien simuliert: Unterschiedlich viele und unterschiedlich strikte Lockdown-Perioden für die Zeit bis Mai 2021. In diesen Simulationen zeigen die Forscher auf, wie viele täglich gemeldete Neuinfektionen mit dem Coronavirus im jeweiligen Szenario zu erwarten sind, und wie viele Intensivbetten für die Versorgung der Patienten erforderlich würden.

November-Lockdown reicht nicht aus, wenn …

… danach alle Maßnahmen dieses „Lockdowns“ aufgehoben werden. Eine dritte COVID-19-Welle im Winter könnte in diesem Fall nicht verhindert werden. Und diese dritte Welle würde noch deutlich stärker als die vorhergegangenen. Andererseits könnten ein bis zwei weitere zweiwöchige Lockdown-Perioden im Winter und Frühjahr es als „Wellenbrecher“ ermöglichen, „Grundaktivitäten aufrecht zu erhalten und die Covid-19-Wellen unter Kontrolle zu halten“, erklären die Wissenschaftler.

Die Simulationen zeigen aber auch, dass „dauerhaft geltende, weniger einschränkende Maßnahmen, wie sie vielerorts bereits vor dem ,Lockdown Light‘ herrschten“, die Epidemie in Deutschland möglicherweise ebenfalls dauerhaft eindämmen könnten. Auch ohne zeitlich begrenzte Shutdown-Perioden.

„Unsere langfristigen Szenario-Modellierungen sind qualitativ zu verstehen und beanspruchen nicht, den realen Verlauf exakt vorherzusagen“, sagt Dr. Jan Fuhrmann vom Simulation Lab Epidemiology and Pandemic des Jülich Supercomputing Centre (JSC). „Die Szenarien zeigen aber gut auf, wie sich die Epidemie unter verschiedenen Maßnahmen entwickeln würde. Wir betonen, dass die in den Simulationen vorhergesagten, teils sehr hohen Fallzahlen nur dann eintreten, wenn entsprechende weitere, zur Eindämmung notwendige Maßnahmen nicht getroffen werden. Das wären zum Beispiel lokal begrenzte Shutdown-Perioden, die in den Szenarien bisher nicht berücksichtigt werden.“ Jan Fuhrmann hat die Entwicklung der Corona-Epidemie in Zusammenarbeit mit Dr. Maria Barbarossa vom Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) berechnet.

Szenario 1: 4-wöchiger Lockdown im November, danach keine weiteren Maßnahmen

Tägliche Neuinfektionen (7-Tages-Mittel)
Intensivbetten-Belegung

Ohne einen Lockdown im November gäbe es im Januar im Sieben-Tages-Mittel mehr als 100.000 Neuinfektionen und es wären zeitweise bis zu 35.000 Intensivbetten erforderlich. Ein vierwöchiger Shutdown im November reichte alleine aber auch nicht aus, um im Februar/März 2021 einen zeitweiligen Anstieg der Intensivpatienten auf über 20.000 zu verhindern. Ein Ausklingen der Zahlen zeichnet sich erst für Ende Mai 2021 ab.

Szenario 2: 4-wöchiger Lockdown im November, danach ein zusätzlicher 2-wöchiger Shutdown

Tägliche Neuinfektionen (7-Tages-Mittel)
Intensivbetten-Belegung

Ab März 2021 würde die Zahl der Neuinfektionen einen erneuten Höhepunkt erreichen. Allerdings wären die Zahlen mit maximal bis zu 40.000 bis 50.000 tägliche Infektionen niedriger als in Szenario 1. Die Anzahl der erforderlichen Intensivbetten läge bei unter 20.000. Ein Ausklingen der Zahlen zeichnet sich auch in diesem Szenario ab Ende Mai ab.

Szenario 3: 4-wöchiger Lockdown im November, danach zwei weitere 2-wöchige Shutdowns

Tägliche Neuinfektionen (7-Tages-Mittel)
Intensivbetten-Belegung

In diesem Fall – drei „Soft Shutdowns” – wird der Höhepunkt im Februar erwartet. In Kombinationen mit „Strong Shutdowns“ träte er früher ein und mit weniger als 40.000 Neuinfektionen pro Tag. In einigen Kombination fällt die Zahl der benötigten Intensivbetten laut Aussagen der Forscher sogar unter 10.000.

Soft, Strong oder Severe Shutdown

Die Unterscheidung zwischen „Soft, Strong oder Severe Shutdown“ bezieht sich auf die Kontaktrate im Sinne von „Anzahl der pro Zeiteinheit in der Bevölkerung stattfindende Paar-Kontakte”, nicht auf konkrete, real eingeführte Maßnahmen.

Soft Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 35% des Werts im Spätsommer, als die Fallzahlen noch niedrig waren.

Strong Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 25% des Werts im Spätsommer (entspricht der Kontaktreduktion, der in der Erklärung der Helmholtz-Gemeinschaft und weiteren Forschungsgemeinschaften gefordert wird).

Severe Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 15% des Werts im Spätsommer.

No Shutdown: Sogenannte Basisreduktion der Kontaktrate auf ca. 60% des Werts im Spätsommer. Dieser Wert wird auch außerhalb der oben beschriebenen Shutdown-Perioden angenommen.

Effekt des aktuellen „Lockdown Light“

Die Auswirkung des „Lockdown Light“ ordnen die Forscher in etwa zwischen einem „Soft Shutdown“ und einem „Strong Shutdown“ ein. Prinzipiell sei es sehr schwer, die Wirkung einzelner Maßnahmen vorherzusagen, insbesondere da bisher nicht einzelne Maßnahmen, sondern Maßnahmen-Pakete angewendet wurden. Daher sei die Wirkung einzelner Maßnahmen aus den Fallzahlen nicht abzuschätzen. „Wir geben deshalb nur Szenarien unter der Annahme verschieden starker Kontaktreduktionen an. Besonders das Verhalten der Bevölkerung angesichts der bekannten Zahlen und politischer Vorgaben lässt sich nur schwer abschätzen.“

Szenario 4: Dauerhafte Maßnahmen, mit und ohne zusätzliche Shutdown-Perioden

Tägliche Neuinfektionen (7-Tages-Mittel)
Intensivbetten-Belegung

In diesem Szenario würden die täglichen Neuinfektionen maximal bei etwa 20.000 liegen. Die Zahl der belegten Intensivbetten läge vermutlich bei unter 10.000.

Annahmen:

Soft Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 25% des Werts im Spätsommer durch dauerhafte Maßnahmen und zusätzliche Shutdown-Perioden.

Strong Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 20% des Werts im Spätsommer durch dauerhafte Maßnahmen und zusätzliche Shutdown-Perioden.

No Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 50% des Werts im Spätsommer durch dauerhafte Maßnahmen ohne zusätzliche Shutdown-Perioden.

Abschließend erklären die Forscher, dass die Basisreduktion aufgrund der hier angenommenen dauerhaften Maßnahmen etwas stärker als in den Szenarien 1-3 angenommen wurde (50% statt 60%). „Ergänzend dazu wurden weitere Szenarien mit zusätzlichen ,Soft Shutdowns‘ und ,Strong Shutdowns‘ berechnet. Der aktuelle ,Lockdown Light‘ kann näherungsweise dem angenommenen ,Soft Shutdown‘ im November zugeordnet werden.“

Originalpublikationen (zur Modell-Entwicklung im Laufe der ersten Covid-19-Welle):

Fuhrmann, J., Barbarossa, M.V.: The significance of case detection ratios for predictions on the outcome of an epidemic – a message from mathematical modelers. Arch Public Health 78, 63 (2020). https://doi.org/10.1186/s13690-020-00445-8

Modeling the spread of COVID-19 in Germany: Early assessment and possible scenarios. MV Barbarossa, J Fuhrmann, J Meinke, S Krieg, HV Varma, N Castelletti, and Th Lippert. PLOS ONE 15(9): e0238559 (2020), https://doi.org/10.1371/journal.pone.0238559

Diagramme © Forschungszentrum Jülich