Die zunehmende Überalterung der Gesellschaft und neue medizinische Technologien fordern das österreichische Gesundheits- und damit auch Rechtssystem heraus. Gesetze müssen angepasst, um- oder neu geschrieben werden. Der Medizinrecht-Experte Karl Stöger vom Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft an der Universität Graz untersucht, wie neue medizinische Technologien mit den rechtlichen Vorschriften vereinbar sind. Im Interview gibt er Einblick in den aktuellen Diskurs in Österreich.
Die steigende Lebenserwartung und die gesundheitliche Versorgung von Menschen im hohen Alter sind große Herausforderungen für das Gesundheitswesen. Neue medizinische Technologien wie Roboter könnten einen Teil der Pflege übernehmen. Allerdings ergeben sich daraus Konflikte mit rechtlichen Vorschriften – im Hinblick auf den Datenschutz und die Haftung.
Auf Künstlicher Intelligenz basierende neue medizinische Technologien ersetzen eher Ärzte als Geräte. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verfließen und so stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Künstliche Intelligenz rechtlich wie ein Gerät reguliert werden sollte oder wie ein Mensch.
Gleichzeitig hat das Gesundheitssystem Probleme, die Bedürfnisse der Patienten optimal zu erfüllen. Durch Zusatzversicherung und eine ambulante Sonderklasse kann sich ein Teil der Bevölkerung eine bessere Behandlung leisten. Stöger sieht darin die Gefahr einer Mehrklassenmedizin und forscht an rechtlichen Lösungen für eine angemessene medizinische Grundversorgung.
Karl Stöger im Interview:
Welche Herausforderungen stellt die fortschreitende Technik an das österreichische Gesundheits- und Rechtssystem?
Ein Thema, das derzeit im Vordergrund steht, sind Medikamente. Durch die Technisierung des medizinischen Fortschritts haben wir eine höhere Menge von Medikamenten, die besser und wirksamer sind. Diese sind aber auch teurer und dadurch nicht mehr für alle leistbar. Dabei stellt sich die Frage, welches Behandlungsniveau das Gesundheitssystem dem Patienten bieten muss. Problematisch ist auch, dass manche Pharmafirmen Österreich gar nicht beliefern, weil der Markt klein ist und die Stückzahlen gering.
Ein weiteres Thema, das derzeit diskutiert wird, ist die Telemedizin, bei der Arzt und Patient nicht mehr am gleichen Ort sein müssen. Wenn der Arzt den Patienten telefonisch berät, dann bekommen auch bettlägrige ältere Patienten und Patienten in entlegenen Gegenden eine bessere medizinische Versorgung. Im Sozialversicherungsrecht ist dies aber noch nicht verrechenbar. Das Problem ist nicht unlösbar. Aber die Frage ist, wie wir das machen.
Künstliche Intelligenz kann Entscheidungsfindungssysteme für Ärzte bereitstellen. Bei bilddiagnostischem Material übertreffen KI-Diagnosen schon jene der Ärzte. KI lernt aus einer vorhandenen Datenbank. Großes Thema dabei: der Datenschutz. Auch hier stellt sich wieder die Frage, wie man mit dem Fall umgeht. Wichtig ist es, den Patienten auch zu sagen, dass man Daten in anonymisierter Form verwenden kann, um anderen Patienten zu helfen. Aber, je besser die Systeme, desto größer die Möglichkeit, dass das System den einzelnen Patienten erkennt – wenn dieser zum Beispiel einen besonderen Tumor hat. Wir müssen die Herausforderung der Verwendbarkeit von Daten bewältigen. Aber die Rechtsordnung hat noch Aufholbedarf. Wobei dieses Thema auf europäischer Ebene zu lösen ist.
Wenn Systeme autonom arbeiten, ergibt sich zusätzlich die Frage Wer ist verantwortlich? Ein Vorschlag wäre, dass man autonome Persönlichkeiten schafft. Die intelligente Maschine soll verantwortlich sein. Es war immer schon so, dass wenn ich mit einem Gegenstand unterwegs bin, ich diesen rechtlich unter Kontrolle haben muss – in Form einer verpflichtenden Haftpflichtversicherung. Jetzt stellt sich die Frage, ob man auch autonome Systeme so behandeln soll.
Aber wer ist schuld, wenn Fehler in Krankenhäusern passieren? Wen ziehe ich zur Verantwortung? Wenn es ein Produktionsfehler ist, kann ich den Hersteller zur Verantwortung ziehen. Aber der Hersteller kann nichts dafür, wenn jemand das System mit schlechten Daten trainiert hat. Das ist eine Herausforderung, die sich durch die gesamte Digitalisierung zieht.
In einem Projekt, das wir (Anmerkung: die Universität Graz) gemeinsam mit Joanneum Research und der Meduni Graz durchgeführt haben, ging es um ein Gerät zur Blutzuckermessung und Insulindosierung bei Diabetes. Das System kann auf einem Tablet angewendet werden und ist in österreichischen Spitälern schon im Einsatz. Die Frage war, ob das System auch in der Hauskrankenpflege einzusetzen ist. Wenn das System korrekt arbeitet, braucht die Pflegehilfskraft nur die Daten abzulesen und Insulin zu spritzen. Derzeit ist das allerdings rechtlich nicht möglich, weil die ausgelesenen Daten von diplomiertem Pflegepersonal überprüft werden müssen. Wir stoßen also noch an rechtliche Grenzen. Es bedarf einer Gesetzesänderung – und die ist nicht so einfach.
In welcher Hinsicht könnte die Digitalisierung ein gerechtes Gesundheitssystem unterstützen?
Durch Wearables wie Gesundheitsuhren oder –apps gibt es immer bessere Möglichkeiten der Datensammlung. Mit diesen Daten könnten Ärzte ihre Patienten treffsicherer behandeln. Insbesondere wenn es zusätzlich einen genetischen Code gibt, der Aufschluss über die gesundheitliche Veranlagung gibt.In Österreich ist die Verwendung von genetischen Analysen allerdings nur eingeschränkt möglich, weil die Gefahr besteht, dass Privatversicherungen Kenntnis über die Gesundheitssituation von Individuen erlangen könnten. Dadurch könnten Personen mit hohem Gesundheitsrisiko von Privatversicherungen abgelehnt werden und das Konzept der statistisch basierten Risikogemeinschaft geht verloren. Aber kann man Menschen dafür verantwortlich machen, dass zum Beispiel Krebs in der Familie liegt? Zudem besteht die Gefahr, dass Menschen mit einem gewissem Risikoprofil ausschließlich auf die staatliche Krankenversicherung angewiesen sind und dort hohe Kosten verursachen.
Welche rechtlichen Vorschriften können zu einem leistbaren Gesundheitssystem beitragen?
Das österreichische Gesundheitssystem ist von Bund und Ländern finanziert. Der Bund ist für die Sozialversicherung und die niedergelassenen Ärzte verantwortlich und die Länder für Krankenhäuser. Diese Regelung ist in der Verfassung geregelt. Problematisch ist, dass diese Regelung teilweise doppelgleisig ist und dadurch teuer. Einsparungen sollen durch die Konzentration von Leistungen erzielt werden. Behandlungen sollen an einzelnen Standorten konzentriert werden, so dass Maschinen und Fachkräfte ausgelastet sind. Dazu werden Spitäler geschlossen und zusammengelegt. Patienten denken allerdings, dass die Versorgung schlechter wird, wenn das Krankenhaus um die Ecke schließt. Die Planung und Versorgung muss gut überlegt sein.
Ein diesbezüglicher Fall ist derzeit beim Verfassungsgericht anhängig. Seit einem Jahr gibt es ein neues Planungssystem, das bund- und länderübergreifend ist. Es ist aber nicht klar, ob das System rechtlich hält, weil die Verfassung nicht geändert wurde.
Weiters sollen auch Kosten im Spitalsbereich und bei niedergelassenen Ärzten begrenzt werden – ohne dass es zu einer schlechteren Patientenversorgung kommt. Im niedergelassenen Bereich will man zum Beispiel bei Medikamenten sparen. Welche Medikamente die Sozialversicherung bezahlt, ist in einem Erstattungskodex festgelegt. Manche Markenmedikamente werden nicht bezahlt, weil derselbe Wirkstoff in einem Generikum verfügbar ist. Auch das ist umstritten.
Danke für das Gespräch.
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