In Deutschland leiden zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung an einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS). Für rund 40.000 Kinder pro Jahrgang bedeuten diese Schwächen Schwierigkeiten in der Schule und eine Beeinträchtigung ihres Selbstbewusstseins. Das geht oft sogar soweit, dass sie komplett die Lust am Lernen verlieren.
Linguisten, Informatiker und Psychologen der Universität Tübingen und des Tübinger Instituts für Lerntherapie (TIL) haben nun das digitale Lernspiel „Prosodiya“ für Tablets und Smartphones entwickelt, um betroffenen Kindern zu helfen. „Viele Kinder mit einer LRS haben Probleme, den Sprachrhythmus wahrzunehmen und die Betonungen der Wortsilben zu erkennen“, sagt Heiko Holz, einer der Entwickler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sprachwissenschaft und Doktorand des LEAD Graduate School & Research Network an der Universität Tübingen.
Lernen in einer Märchenlandschaft
Diese Schwierigkeiten seien ein echter Hemmschuh beim Schreibenlernen, erklären die Forscher, denn die Silbenbetonung spiele eine große Rolle für die Anwendung wichtiger Rechtschreibregeln. „So wird in den betonten Silben vieler Wörter der Vokal durch zusätzliche Buchstaben begleitet: Lange Vokale werden zum Beispiel durch h oder ie gekennzeichnet (fehlen, Biene), während kurze Vokale zum Beispiel durch ck (packen) oder doppelte Konsonantenbuchstaben (rennen) angezeigt werden.“ Wer diese Regeln zur Markierung der Vokallängen nicht beherrsche, dem fehle ein entscheidender Baustein der deutschen Orthographie.
Und genau hier kommt Prosodiya ins Spiel. an. Im fiktiven Land „Prosodiya“, einer farbenfrohen Märchenlandschaft, trainieren die Kinder Schritt für Schritt, einzelne Wörter in Silben einzuteilen und die betonten Silben zu erkennen. Sie lernen, Silben mit langem und kurzem Vokal zu unterscheiden und schließlich die Rechtschreibregeln darauf anzuwenden. Zu Beginn des Spiels liegt Prosodiya allerdings in einem düsteren Nebel. Der lichtet sich erst, wenn die Kinder mit Hilfe der „Kugellichter“ die „Macht der Worte“ erringen. Die runden Spielfiguren helfen den Kindern dabei, die Silbenmuster und Schreibung der Wörter erlernen.
Dabei springt das große, grüne Kugellicht auf die betonten, das kleine gelbe auf die unbetonten Silben der Wörter. Ein rotes Kugellicht ist mit seinem offenen Mund für die langen Vokale zuständig, ein blaues Kugellicht mit geschlossenem Mund steht für die kurzen Vokale.
Wirksamkeit bereits bestätigt
Prosodiya können die Kinder zu Hause ohne Unterstützung Erwachsener spielen. Das sei vor allem wichtig für Kinder mit Migrationshintergrund, deren Eltern nicht genug Deutsch können, um ihnen zu helfen, erklärt Heiko Holz. Vorgesehen sei, dass die Kinder über zehn Wochen hinweg drei bis fünf Mal pro Woche jeweils eine Viertelstunde spielen. Die Lektionen würden nach und nach freigeschaltet, damit die jungen Spieler die Episoden nicht hintereinander „verschlingen“, was den Lerneffekt verringern würde.
Eine erste Studie zeigte bereits die Wirksamkeit der App. Bei 130 Schulkindern aus der zweiten bis vierten Klasse, von denen viele eine Lese-Rechtschreibschwäche hatten – zeigte sich, dass die App die Rechtschreibleistung und die Betonungswahrnehmung deutlich verbesserte. Viele der Kinder konnten als Nebeneffekt sogar auch besser lesen.
Noch kostenfrei
Die ganze „Macht der Worte“ haben die Kinder am Ende des Spiels jedoch nicht, da es in dem ersten Prosodiya-Modul vor allem um die Grundformen der Wörter geht. „Die Herausforderungen zusammengesetzter, abgeleiteter und gebeugter Wörter – zum Bespiel „sieht“ mit ie und h – müssen die Kinder noch meistern.“ Die Entwicklung eines zweiten Moduls, das Flexionsmuster und Wortfamilien mit einbezieht, ist bereits in Arbeit.
Das Lernspiel kann als App heruntergeladen werden und ist bis zum Ende des laufenden Schuljahres noch kostenfrei erhältlich. Danach wird das Tübinger Institut für Lerntherapie (TIL) die App als Ausgründung auf dem Markt anbieten. Entwickelt wurde das Projekt im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts. Gefördert wurde es außerdem durch die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.
Titelbild: Prosodiya Übung zur Betonung © Eberhard Karls Universität Tübingen