Eine der am meisten unterschätzten Nebenwirkungen von hohen Querschnittlähmungen sind Atembeschwerden. Grund dafür ist die Lähmung wichtiger Atemmuskeln. Dabei verschlechtert sich der Hustenstoß und die Sekretionsabwehr, was zu Komplikationen wie zum Beispiel Lungenentzündung führen kann. Mehr als das, zählen Atembeschwerden zur Haupttodesursache. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass regelmäßiges Atemtraining dem vorbeugen kann, weshalb Betroffene laufend Atemtraining absolvieren sollten, erklärt Diplomingenieur Michael Gstöttenbauer von der österreichischen Forschungseinrichtung LIFEtool in Linz. Das gemeinnützige Unternehmen ist auf assistierende Technologien insbesondere für Menschen mit hochgradigen Bewegungseinschränkungen spezialisiert.
Zugang zu regelmäßigem Atemtraining
Jetzt will die Forschungseinrichtung den Betroffenen das Atemtraining unabhängig von Anderen und selbstständig zu Hause ermöglichen. Denn das Training sollte wie das Zähneputzen regelmäßig durchgeführt werden, kommt in der Praxis aber meist zu kurz. Das liegt daran, dass es oft wenig Spaß macht und von den Betroffenen nur in Abhängigkeit von Anderen durchgeführt werden kann. „Es macht also Sinn, den Usern und Userinnen einen autonomen und motivierenden Zugang zum regelmäßigen Training anzubieten“, so Gstöttenbauer.
IntegraMouse AIR
Dabei knüpft LIFEtool an das bestehende Produkt IntegraMouse an, welches die Forschungseinrichtung schon 2003 Jahren auf den Markt brachte. Es handelt sich dabei um eine Computermaus, die intuitiv mit dem Mund zu bedienen ist – Klicks werden durch Saugen und Blasen getätigt. Mittlerweile in der zweiten Generation, ermöglicht es IntegraMouse Plus, alltägliche, arbeits- und bildungsbezogene Aufgaben an Computer und mobilen Geräten auszuführen. Weiters ermöglicht es Betroffenen, sich mühelos und autonom in sozialen Medien zu engagieren, Smart Homes fernzusteuern – und selbst komplexe Video-Games zu spielen. Eben diese Maus soll nun in die dritte Generation gehen, um den Betroffenen zusätzlich das Atemtraining autark und zu Hause zu ermöglichen. Dementsprechend auch die Bezeichnung IntegraMouse AIR.
Computermaus und Gerät für das Atemtraining
Die IntegraMouse AIR wird die Funktionen ihres Vorgängermodells mit einem Atemtrainingsgerät verbinden. Projektziel ist es, ein KI-gestütztes, adaptives und multimodales Computereingabegerät zu entwickeln, das intuitiv mit dem Mund bedient werden kann. Für die zusätzliche Nutzung als Gerät für das Atemtraining, muss das Mundstück optimiert werden und das Gerät mit einer Atemtrainings-App ergänzt werden. Das F&E-Team ist interdisziplinär und besteht – neben LIFTEtool aus regionalen Partnern: Die Entwickler Elektronik GmbH, die Haratech GmbH und das Software Competence Center Hagenberg.
Evaluierung von Atemmustern
Die Atemleistung der verschiedenen Nutzer und Nutzerinnen ist unterschiedlich. Eine der wesentlichen Herausforderungen ist es darum, das Gerät an die jeweilige Leistungsfähigkeit anzupassen. Deshalb will das Konsortium zunächst Atemmuster von Probanden und Probandinnen sammeln. Die Evaluierung dieser Atemmuster soll den wissenschaftlichen Erkenntnisstand erweitern. Gleichzeitig bildet diese die Basis für die Entwicklung eines adaptiven Atemtrainings. Mit dieser Funktion sollen die Nutzer und Nutzerinnen den größtmöglichen Nutzen aus ihrem Atemtraining ziehen können. Eine prototypisch entwickelte Künstliche Intelligenz (KI) soll als Kernstück der Trainings-App die individuelle Planung des Trainings unterstützen“, erklärt Gstöttenbauer.
Automatische Kalibrierung
Die automatische Kalibrierung der IntegraMouse AIR ist deshalb wichtig, weil sie in allen möglichen Positionen verwendet werden kann und zu Beginn der neutrale Zustand festgelegt werden soll. Aber auch während der Nutzung muss das Gerät immer wieder neu kalibrieren. Denn die Kräfte, die auf die Maus wirken, können sich ändern, zum Beispiel durch Speichel, der sich im Mundstück sammelt. Die Kalibrierung soll ohne Eingabe, also automatisch geschehen, damit es nicht zu ungewolltem Verhalten kommt, wie etwa selbstständige Mausbewegungen oder unbeabsichtigte Klicks.
Individuelle Anpassbarkeit
Zusätzlich soll die IntegraMouse AIR individuell einstellbar sein, da unterschiedliche Nutzer und Nutzerinnen unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Vor allem die für das Klicken benötigte Saug- und Blasestärke muss adaptiv sein. „In einer optionalen Einstellungs-App lassen sich wichtige Parameter individuell einstellen, betont Gstöttenbauer. Durch diese Adaptivität an die Nutzerbedürfnisse wird ein kontinuierliches und effizientes Trainingsprogramm für die Atem-Muskulatur ermöglicht.
Maximale Unabhängigkeit
IntegraMouse AIR soll ihren Nutzern maximale Unabhängigkeit bei der Verwendung bieten. Das heißt, Nutzer sollen einen selbstständigen Zugang zum Atemtraining haben und ohne fremde Hilfe zwischen Mausanwendung und Atemtraining wechseln können. Das funktioniert nur, wenn kein Mundstückwechsel notwendig ist. Deshalb stehen die Forschenden vor der Herausforderung das Mundstück zu optimieren. Das ist insofern wichtig, als die Erreichung dieses Ziels einen enormen Beitrag zu mehr Autonomie und somit zu erhöhter Patientenermächtigung entlang der Patient Journey leisten kann.
Die Zahl der Menschen mit einer Querschnittlähmung liegt weltweit bei rund 2,7 Millionen Menschen. Aber IntegraMouse AIR kann nicht nur bei hochgradiger oder kompletter Querschnittlähmung angewendet werden, sondern auch bei einer Reihe von anderen Beeinträchtigungen. Wie zum Beispiel bei beidseitiger Armamputation, fortschreitenden Erkrankungen wie Muskeldystrophie oder Amyotropher Lateralsklerose (ALS).
F&E mit Betroffenen
LIFEtool bietet computerunterstützte Lösungen, die selbstbestimmte Kommunikation ermöglichen und ist unter anderem auf assistierende Technologien insbesondere für Menschen mit hochgradigen Bewegungseinschränkungen spezialisiert. Das ist insofern wichtig, als es diesen ermöglicht, selbstbestimmt am sozialen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Das Unternehmen ist gemeinnützig und steht zu gleichen Teilen im Eigentum von AIT Austrian Institute of Technology und Evangelisches Diakoniewerk. In dieser Konstellation sind die rechtlichen Voraussetzungen gegeben, um in Forschung & Entwicklung mit Betroffenen zusammenarbeiten zu können. So entstand auch das Projekt IntegraMouse AIR, das im Mai 2022 gestartet wurde und noch bis Oktober 2024 läuft. Die Anregung zu IntegraMouse Plus und IntegraMouse AIR kam jeweils von Mario Marusic, der seit einem Badeunfall in seinem 19. Lebensjahr querschnittgelähmt ist. Er nutzt die IntegraMouse Plus übrigens nicht nur für das Gaming, sondern auch für seine Auftritte als DJ. Bald kann er die Computermaus nun auch für das Atemtraining nutzen. Marusic war zunächst Konsulent und ist mittlerweile Mitarbeiter bei LIFEtool. Er engagiert sich in Forschung und Entwicklung, sowie im Support-Team.