Autonome Autos sind bislang nur Zukunftsmusik und Wissenschaftler rund um die Welt forschen mit Hochdruck daran, wie sich ein Auto ohne menschliche Beteiligung im Alltagsverkehr zurechtfinden kann. Dabei gilt es für die automatisierten Fahrzeuge nicht nur, korrekte zu navigieren und Hindernisse zu erkennen, sondern auch, sich gegen menschliche Fahrer durchzusetzen und zum Beispiel auch langsamere Fahrzeuge zu überholen (IO berichtete bereits darüber).
Diese Hürde haben jedoch nicht nur komplett autonome Autos zu überwinden, sondern auch die hochautomatisierten Wagen, die heute bereits unterwegs sind. Insbesondere Überholmanöver auf zweispurigen Landstraßen stellen für die eingebaute Technik ein Problem dar, da vorausfahrende Fahrzeuge die Sensoren stören. Um diese Problematik zu lösen, haben Wissenschaftler der Universität Ulm nun ein System entworfen, das die Aufgaben beim Überholen zwischen Mensch und System perfekt teilen soll.
Mehr Artikel zum Thema autonomes Fahrern finden Sie hier.
Blinde Sensoren
Überholen auf zweispurigen Straßen ist schon für einen Menschen am Steuer oft nicht einfach, besonders, wenn man bei Gegenverkehr abschätzen muss, ob ein Überholmanöver sicher möglich ist oder das vor einem fahrende Fahrzeug ein LKW ist und die Sicht verdeckt. Die Sensoren eines autonomen oder hochautomatisiertem Auto werden bereits von einem normalen Personenwagen gestört, kommen dann noch Kurven, Kuppen oder Senken dazu, wird es für das Computersystem noch schwerer, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. „Der Mensch weiß, dass Überholmanöver in solchen Situationen hochriskant sind“, erklärt Marcel Walch, der Erstautor der mit dem „Best Paper Award“ ausgezeichneten Veröffentlichung. Der Doktorand vom Institut für Medieninformatik hat gemeinsam mit dem Informatiker und Universitätspräsident Professor Michael Weber sowie mit Psychologen der Universität Ulm ein kooperatives System entwickelt, das die jeweiligen Stärken von Fahrer und Fahrzeug kombiniert.
Während der Mensch eine Verkehrssituation räumlich besser erfassen und damit verbundene Gefahren ‚realistischer´ einschätzen könne, besteche die Technik bei der Ausführung von Fahrmanövern, erklärt Walch. Daher sei es nur logisch, dass man bei Überholmanövern die Stärken des Menschen und die der Technik verbinde. Andernfalls müsse das Fahrzeug weiter hinter dem langsameren Vordermann herfahren, oder der Fahrer müsse „von Hand“ überholen. Also müsse der Mensch die Entscheidung treffen, zu überholen, das Manöver selbst würde aber vom Fahrzeug ausgeführt. Für diesen Übergang ist ein „Handover“ nötig, bei dem vom Automatikbetrieb auf manuell umgestellt werden kann.
Bei freier Gegenfahrbahn erwartet der Mensch, dass die Automation ein Überholmanöver einleitet. Professor Martin Baumann, Leiter der Abteilung Human Factors, der mit zwei Doktoranden an diesem Forschungsprojekt beteiligt ist, betonte, dass das Vertrauen in die Technik gestört werden und deren Akzeptanz schaden kann, wenn der Mensch das Verhalten der Automation als unangemessen erlebt. Wenn die Technik jedoch erklärt, dass sie nicht überholt, weil ihre Sicht eingeschränkt ist, weiß der menschliche Fahrer, dass er eingreifen und der Technik mitteilen muss, dass die Gegenfahrbahn frei ist. So könne der Mensch die Technik besser „verstehen“ und adäquat unterstützen, sagen die Forscher. Fahrer und Automation arbeiten perfekt zusammen.
Erste Tests erfolgreich abgeschlossen
Dieses kooperative System für Überholmanöver wurde in einem hochmodernen Fahrsimulator im Institut für Human Factors getestet. In das Cockpit dieses Simulators ist ein großes Display eingebaut, über das Fahrer und Fahrzeug interagieren. Die Landschaft und der Streckenverlauf für die Fahrt auf einer zweispurigen Landstraße werden auf drei große Leinwände projiziert. Die Geschwindigkeit lag in der Simulation bei rund 100 km/h und es mussten auf einem variierenden Streckenverlauf langsamer fahrende Autos überholt werden, die mit rund 70 km/h unterwegs waren.
Die menschlichen Fahrer mussten während der Simulation bestimmte Testaufgaben lösen, durch die sie mehr oder weniger stark abgelenkt wurden. Da das Fahrzeug so programmiert war, dass es so dicht hinter dem vorausfahrenden langsameren Auto herfährt, dass die „Sicht“ sowohl für den Fahrer als aus für die Sensorik des Fahrzeugs eingeschränkt war, kam es – wie geplant und wie im wahren Leben– öfter zu „brenzligen“ Situationen. Dann wurde der Überholvorgang entweder automatisch abgebrochen oder konnte vom menschlichen Fahrer abgebrochen werden.
Überholen per Knopfdruck
Die Forscher haben sich weiterhin überlegt, wie ein geeignetes Interaktionssystem aussehen könnte, mit dem der Fahrer den Überholvorgang auslösen und – bei Gegenverkehr – sicher und rechtzeitig wieder abbrechen kann. Dafür untersuchten sie zwei verschiedene Interaktionstechniken: Das „CLICK“- und das „HOLD“-Vefahren. Beim „CLICK“-Verfahren mussten die Teilnehmer an der Simulation zum Überholen auf einem Display auf einen „Überholen Erlauben“-Knopf drücken, der im selben Augenblick zu einem „Überholvorgang Abbrechen“-Knopf wurde. Das heißt, brührt der Fahrer diese Schaltfläche erneut, wird der Überholvorgang abgebrochen. Bei der „HOLD“-Variante muss der Fahrer den Überholknopf so lange gedrückt halten, bis der Wechsel auf die Gegenfahrbahn abgeschlossen ist. Am Ende erklärten viele Probenden, dass sie die „HOLD“-Technik zwar für sicherer hielten, da der Überholvorgang bei Gefahr schneller abgebrochen werden konnte, die „CLICK“-Variante aber praktischer und nutzerfreundlicher sei. angesehen wurde.
Am Ende der Studie zeigte sich, dass viele Testfahrer einen kooperativer Ansatz beim Überholen dem manuellen Überholmanöver vorzogen. Gleichzeitig war aber auch klar, dass der Mensch komplexen Situationen nicht immer gewachsen ist, insbesondere wenn er stärker abgelenkt ist. Dann wurde gerne mal der Blick in Rückspiegel vergessen, wenn ein Überholmanöver freigegeben wurde. Die Forscher empfehlen daher, dass das Fahrzeug den Menschen an den Blick in den Rückspiegel erinnert und gegebenenfalls mit Hilfe von Sensordaten vor dem rückwärtigen Verkehr warnt, um gefährliche Situationen zu verhindern.
Gefördert wurde das Projekt im Rahmen des Verbundprojektes KoFFI zur Kooperativen Fahrer-Fahrzeug-Interaktion vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Vorgestellt und ausgezeichnet wurde es im Herbst auf der Leitmesse für Automobile Benutzerschnittstellen, der Automotive UI 2019 in Utrecht.
Ein ähnliches Projekt wurde auch am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) entwickelt, wo am 15. November bei einer Fahrvorführung das Projekts PAKoS vorgestellt wird. Dabei geht es ebenfalls um ein reibungsloses Zusammenspiel von Mensch und Technik und eine situationsbedingte problemlose Übergabe an den menschlichen Fahrer. Beispiele für eine derartige Situation sind Baustellen, in denen es Tempolimits und keine für das System eindeutigen Fahrspuren gibt, oder unkartierte Privatgelände.