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Sie wollten schon immer mal eine Popmusik-Klassiker schreiben? Dann dürften Sie sich über die neuesten Forschungsergebnisse des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften freuen. Denn die Wissenschaftler rund um Prof. Dr. Stefan Kölsch und Doktorand Vincent Ka Ming Cheung haben einen Teil der Erfolgs-DNA von Musik entschlüsselt. Lieder wie James Taylors “Country Roads”, UB40s “Red, Red Wine” oder The Beatles’ “Ob-La-Di, Ob-La-Da” sind dank ihrer perfekten Kombination aus Unsicherheit und Überraschung einfach unwiderstehlich. Denn der Musikgenuss hängt offensichtlich von zukünftigen und rückblickenden Erwartungszuständen ab.

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„Es ist faszinierend, dass bei Menschen Freude an einem Musikstück entsteht, nur durch die Art und Weise, wie die Akkorde in der Musik über die Zeitdauer hinweg angeordnet werden”, ist Vincent Cheung von den Ergebnissen begeistert. „Songs, die wir als angenehm empfinden, sind wahrscheinlich diejenigen, die eine gute Balance erreichen zwischen unserem Wissen, was als nächstes passieren wird, und der Überraschung mit etwas, das wir nicht erwartet haben.“ Der Neurowissenschaftler ergänzt:

Zu verstehen, wie Musik unser Genusssystem im Gehirn aktiviert, könnte erklären, warum wir uns oft durch das Hören von Musik besser fühlen, auch wenn wir gerade melancholisch sind.“

Hirnbildgebung und maschinelles Lernen

Für Ihre Forschungen analysierten die Experten mit Hilfe eines maschinellen Lernmodells insgesamt 80.000 Akkorde aus 745 klassischen US-Billboard-Pop-Songs. Dieses half dabei, Unsicherheit und Überraschung mathematisch zu quantifizieren. Und ist einer der Punkte, der diese Studie von bisherigen unterscheidet. Bislang seien die Reaktionen auf überraschende musikalische Ereignisse nur berücksichtigt worden , wenn das musikalische Ereignis tatsächlich zu hören war, erklärt Cheung. Er und seine Kollegen berücksichtigten hingegen auch die Unsicherheit einer vorhergehenden Erwartung.

Wir alle kennen es: Den ersten Takt eines Musikstückes gehört und schon erkennen wir den Song. Um dies zu vermeiden, so Cheung, befreiten die Forschenden die Lieder von Elementen wie Text, Melodie und Rhythmus. Sie behielten nur die Akkordfolgen der ursprünglichen Popsongs bei. Somit waren die Chart-Hits von den Probanden nicht mehr zu erkennen.

Cheung erklärt uns die Besonderheit der Forschungsarbeit:

Unsere Studie kombiniert Hirnbildgebung und maschinelles Lernen, um herauszufinden, wie die Erwartung an die Musik Freude an der Musik bereitet und, um die direkt zugrundeliegenden, neuronalen Netzwerke aufzuzeigen.“

Richtiger Mix aus Überraschung und Bekanntheit

Das Ergebnis: Waren sich die Probanden relativ sicher, welche Akkorde als nächstes zu erwarten waren, empfanden sie es interessanterweise als angenehm, wenn sie stattdessen überrascht wurden – ihre Erwartungen also verletzt wurden. Umgekehrt wiesen die Forschenden auch nach, sofern sich die Testpersonen unsicher waren, was sie als nächstes erwartete, fanden sie es angenehm, wenn nachfolgende Akkorde nicht überraschend, sondern bekannt waren.

Obwohl Komponisten es seit Jahrhunderten intuitiv wissen, war der zugrundeliegende Prozess, wie die Erwartung in der Musik Freude hervorruft, noch unbekannt”, bestätigt Kölsch. „Denn die meisten Studien haben in der Vergangenheit nur die Auswirkungen von Überraschung auf das musikalische Vergnügen betrachtetet, nicht aber die Unsicherheit der Vorhersagen der Hörer.”

Die Wissenschaftler nutzten für ihre Arbeit Hirnbilder aus der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI). Mit diesen fanden sie zudem heraus, dass sich die Erfahrung des Musikgenusses ‒ wie vermutet ‒ in drei Gehirnregionen widerspiegelt: der Amygdala („Mandelkern“ zur Verarbeitung externer Impulse), dem Hippocampus („Seepferdchen“ zur Steuerung von Affekten und Gedächtnis) und dem auditorischen Kortex (Hörzentrum). Diese Regionen verarbeiten Emotionen, Lernen und Gedächtnis sowie Klang. Im Gegensatz dazu ‒ und völlig überraschend für die Forschenden ‒, spiegelte die Aktivität im sogenannten Nucleus accumbens, hier wird die Erwartung von Belohnung verarbeitet, nur die Unsicherheit der Zuhörer wider. Bisher dachte man, dass dieser Teil des Gehirns (mit seiner Bedeutung für das menschliche Belohnungssystem) auch eine Rolle bei der Verarbeitung von Musikgenuss spielt. Laut Cheung werden weitere Forschungen zeigen müssen, wie die Prozesse aus diesen Regionen genau zusammenkommen, um Freude an der Musik zu erzeugen.

Ergebnisse eventuell adaptierbar auf Tanz und Film

Das Ergebnis der Forscher zeigt zusammenfassend auf, dass das Gefühl des Vergnügens die Gehirnregionen betrifft, die Geräusche, Emotionen und Erinnerungen verarbeiten und, dass

„…musikalisches Vergnügen vom dynamischen Zusammenspiel zwischen prospektiven und retrospektiven Erwartungszuständen abhängt. Unsere menschliche grundlegende Fähigkeit zur Vorhersage ist daher ein wichtiger Mechanismus, durch den abstrakte Klangsequenzen eine affektive Bedeutung erlangen und sich in ein universelles kulturelles Phänomen verwandeln, das wir ‚Musik‘ nennen,“ heißt es in der Pressemitteilung.

Eine entsprechend wichtige Annahme der Studie ist, dass die Erwartungen der Menschen an Akkorde implizit durch das Leben erworben werden, wie Cheung auf unsere Nachfrage nach unterschiedlichem Musikgeschmack beispielsweise von Kindern und Jugendlichen oder auch der älteren Generation, erklärt. Somit prägen unsere bisherigen Erfahrungen in der Musik ‒ z.B. durch Radiohören oder Beschallung in Bars und Restaurants ‒ unsere Erwartungen. Auch diese können sich also auf die Art der Musik auswirken, die wir genießen.

Basierend auf ihren Erkenntnissen ermuntern die Studienautoren, dass die zukünftige Hirnforschung die kombinierten Rollen von Unsicherheit und Überraschung stärker berücksichtigen sollte. Somit könnte man zum Beispiel herausfinden, warum andere Kunstformen wie Tanz und Film eine so hohe Wertigkeit für den Menschen haben. Die Ergebnisse könnten auch zur Verbesserung künstlicher Algorithmen beitragen, die Musik erzeugen, sowie zur Unterstützung von Komponisten beim Schreiben von Musik oder zur Vorhersage musikalischer Trends eingesetzt werden.

Ergebnisse könnten Kompositionen erleichtern, aber nicht ersetzen

Der nächste Schritt für die Neurowissenschaftler selbst besteht nun darin, zu untersuchen, wie Informationen beim Musikhören im Laufe der Zeit über verschiedene Teile des Gehirns fließen. Sie wollen wissen, warum und wie es passiert, dass Menschen, die Musik hören, manchmal eine Gänsehaut bekommen. Dazu Cheung:

Wir denken, dass es ein großes Potenzial in der Kombination von Computermodellierung und Hirnbildgebung gibt, um nicht nur zu verstehen, warum wir Musik genießen, sondern auch, was es bedeutet, Mensch zu sein.”

Und auf die Frage, ob es demnächst eine Kompositionsbaukasten für Songs geben könnte, prognostiziert Cheung zumindest folgendes Szenario:

Unsere Ergebnisse könnten verwendet werden, um künstliche Algorithmen zur Musikgenerierung zu verbessern oder die Komposition zu erleichtern.“

Aber offensichtlich nicht ersetzen, denn schließlich gehört zu einem perfekten Lied dann doch der Text, die Melodie und ein mitreißender Rhythmus.

Die Studie wurde kürzlich in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.