Autonome Fahrzeuge könnten die Zahl der Unfälle erheblich reduzieren – zumindest in Zukunft. Derzeit ereignen sich aber immer noch teilweise schwere Unfälle mit Personenschaden. Experten zufolge hat das zwei Hauptursachen:
Auf den Straßen bewegen sich Fahrzeuge unterschiedlicher Autonomiestufen – und das führt zu einer gemischten Verkehrssituation mit inkompatiblen Fahrstilen.
Informationsgesteuerte Vehikel reagieren anders als Menschen. Das könnte dazu führen, dass sie kritische Situationen nicht vollständig erkennen und sich unberechenbar verhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine Standards gibt und autonome Fahrzeuge verschiedener Hersteller unterschiedliche Designs in Konzept, Training und Test ihrer Produkte aufweisen.
„Unfälle werden anders aussehen als bisher. Aber derzeit wissen wir nicht genau, wie sie aussehen werden. Dieses fehlende Wissen ist ein Hindernis für die Verbesserung der Sicherheit künftiger Mischverkehrssituationen“, sagt Professor Alessio Gambi, Projektleiter am Department of Science and Technology an der Fachhochschule IMC Krems. Er ist einer von zehn Partnern im EU-finanzierten Forschungsprojekt Flexcrash, das dazu beitragen soll, die Wissensbasis zu erweitern – und Ansätze für Problemlösungen zu entwickeln.
Aufprallsicherheit verbessern
Hauptziel des Forschungsprojekts ist es, eine neuartige Fertigungstechnologie für Fahrzeugstrukturen zu entwickeln. Werkstoff sind hochfeste grüne Aluminiumlegierungen, die den Nachhaltigkeitszielen der Europäischen Union entsprechen. Grünes Aluminium ist kohlenstoffarm und kann bis zu 90 Prozent aus recyceltem Aluminium bestehen. Als solches trägt es dazu bei, die CO2-Emissionen im Produktionsprozess zu senken. Im Hinblick auf das Projektziel vereint Aluminium die Vorzüge der Leichtbauweise mit jenen einer verbesserten Aufprallsicherheit.
Die Forschenden wollen eine neue Generation crash-toleranter Strukturen schaffen, die bei einer Vielzahl von Aufprallwinkeln und unerwarteten Crash-Bedingungen hervorragende Leistungen bringen. Dazu wollen sie hybride Fertigungstechnologien nutzen und mittels additiver Verfahren Oberflächenmuster auf vorgeformte Teile aufbringen.
Verletzungsrisiko senken
Frontalzusammenstöße machen 70 Prozent aller Fahrzeugkollisionen aus. Daher konzentrieren sich die Lösungen im Projekt Flexcrash auf die Frontstruktur. Wobei sich die zu entwickelnden Technologien jedoch auf mehrere sicherheitsrelevante Stellen des Fahrzeugs übertragen lassen, an denen das Verletzungsrisiko für die Insassen hoch ist. Die neu zu schaffende Technologie soll wesentlich dazu beitragen, unfallbedingte Todesfälle und Verletzungen zu reduzieren. Gleichzeitig sollen die Herstellungskosten für autonome Fahrzeuge gesenkt werden.
Um dieses Forschungsziel zu erreichen, müssen zunächst die Sicherheitsanforderungen für aktuelle und zukünftige Fahrszenarien ermittelt werden. Daher werden fortschrittliche Crash-, Zähigkeits-, Bruch- und Ermüdungstests durchzuführen sein.
Crash-Szenarien identifizieren
Die Aufgabe von Professor Gambi und seinem Team von der Fachhochschule IMC Krems ist es, anhand der aktuell verfügbaren Crash-Datenbanken relevante Crash-Szenarien zu identifizieren, an denen möglicherweise auch autonome Fahrzeuge beteiligt sind. Diese Forschung soll die Grundlage für eine Simulationsplattform liefern, auf der virtuelle Live-Interaktionen zwischen Menschen, advanced driver-assistance systems (ADAS) und autonomen Fahrzeugen untersucht werden können.
Entsprechende Daten sind derzeit noch kaum vorhanden. Denn der Grad der Autonomie von Fahrzeugen, die in einen Unfall verwickelt sind, ist bislang weltweit erst in einer öffentlich zugänglichen Datenbank systematisch erfasst: der Department of Motor Vehicles (DMV)-Datenbank für autonome Fahrzeuge der kalifornischen Regierung. In anderen Datenbanken sind Informationen zum Grad der Autonomie der unfallbeteiligten Fahrzeuge nicht verpflichtend, da es keine entsprechenden Vorschriften dafür gibt.
Unfälle, die auf echten Interaktionen basieren
Also sind Gambi und Team zunächst auf die verfügbaren Daten angewiesen, die meist keinen Aufschluss über den Autonomiegrad der beteiligten Fahrzeuge geben. Weshalb sie sich eher zur Untersuchung des menschlichen Verhaltens eignen. Sobald jedoch Datenbanken mit Angaben zum Autonomiegrad von Fahrzeugen veröffentlicht werden, sollen diese ebenfalls Eingang in die Studie und die Simulationen finden. Um die Daten aus den Datenbanken extrahieren und analysieren zu können, nutzen die Forscher speziell entwickelte maschinelle Lernalgorithmen.
Im ersten Schritt des Projekts werden diese vorhandenen Verkehrsszenarien aus Datenbanken wie CARE, GIDAS, STRADA, ZEDATU in spezielle Simulationen wie etwa BeamNG.tech eingespeist.
Im zweiten Schritt wird das Team eine offene Online-Simulationsplattform entwickeln. Diese ist an Prinzipien populärer Videospiele orientiert und ermöglicht es Spielern aus der Ferne miteinander und mit einer künstlichen Intelligenz interagieren. Für die Forschenden gilt es, die virtuellen Live-Interaktionen zwischen menschlichen Fahrzeuglenkern und (simulierten) autonomen Fahrzeugen zu untersuchen. Dadurch werden sie in der Lage sein, eine zusätzliche Reihe von Verkehrsszenarien zu generieren, die nicht auf früheren Unfällen, sondern auf echten Interaktionen beruhen.
Schwere der Unfälle virtuell steigern
Möglich werden diese Simulation von Verkehrsszenarien durch spezielle Suchalgorithmen, welche von den Forschenden im Haus entwickelt werden. Die Algorithmen nutzen Daten aus Datenbanken und Plattform, um virtuelle Crash-Szenarien zu berechnen, die mögliche Aktionen von autonomen Fahrzeugen vorwegnehmen. “Mithilfe unserer Algorithmen können wir die virtuelle Schwere der simulierten Unfälle ohne viel Aufwand stetig steigern. Das ermöglicht uns, jene Fahrzeugstrukturen zu identifizieren, die hauptsächlich an schweren Unfällen beteiligt sind – und deren Verhalten in solchen Situationen vorherzusagen,” erklärt Professor Gambi.
Laut Gambi handelt es sich bei dieser Plattform zur Durchführung von Studien über Szenarien mit gemischtem Verkehr um ein weltweit einzigartiges Projekt. Es gebe viele Simulationen, die sich auf verschiedene Aspekte des Fahrens und auf unterschiedliche Abstraktionsniveaus konzentrieren, zum Beispiel Autounfall-Simulationen die aus Texten, Unfallskizzen und Dash-Cam-Videos nachgebildet werden. Dies sei jedoch noch Neuland und mit einigen technischen Herausforderungen und offenen Problemen behaftet“, so der Professor.
Um das theoretisch höhere Sicherheitspotenzial auszuschöpfen, das autonome Fahrzeuge bieten, müssen sich die Menschen an die Technologie anpassen, so Gambi weiter. Das werde mit fortschreitender Technologie zunehmend einfacher werden. In der Zwischenzeit müsse man die schlimmsten Unfallszenarien studieren, um vorbereitet zu sein – und maßgefertigte Sicherheitsmechanismen in die Fahrzeuge einbauen.