Jeder, der schon einmal im Notfall die 112 anrufen musste, kennt das Gefühl. Wenn Sie mit der Zentrale sprechen, müssen Sie genau überlegen: Wo befinden Sie sich, wieviele Verletzte und was ist passiert. Je genauer die Angaben, desteo schneller können die Lebensretter zum Notfallort kommen. Doch, was ist, wenn Sie sich im Ausland befinden und die Landessprache nicht sprechen? Wie sollen Sie dann erklären, was passiert ist und wo genau? Dank der Software Emergency Eye ist dieses Problem nun vorbei. Durch den Anruf wird nicht nur sofort sichtbar, wo der Unfall stattgefunden hat. Der Mitarbeiter in der Leitstelle kann außerdem direkt über die Kamera des Smartphone-Anrufers sehen, was am Unfallort vor sich geht. Basierend auf diesen Informationen kann er Entscheidungen treffen und Anweisungen geben. Dazu müssen nicht einmal die gleiche Sprache sprechen.
Lebensretter sprechen die gleiche Sprache
Die Chat-Funktion im System erkennt sofort, welche Sprache auf dem Smartphone eingestellt ist, und übersetzt automatisch alle Kommentare und Anweisungen des Mitarbeiters aus der Telefonzentrale. Das Gute daran ist, dass niemand eine spezielle App dafür herunterladen muss. Alles funktioniert über das Softwaresystem der Notfallzentrale. In Deutschland verfügen inzwischen 160 der rund 250 Schaltstellen über dieses System. Günther Huhle, der dieses Unternehmen zusammen mit seiner Frau Carola Petri gegründet hat, erzählt Innovation Origins wie die Idee zu Emergency Eye entstanden ist.
Wie sind Sie auf die Idee für dieses Notrufsystem gekommen?
“Der Anlass war sehr schlimm. Meine Frau und ich haben 2016 eine Motorradtour durch die Bretagne unternommen. Sie saß hinten, als wir von einem Auto angefahren wurden. Meine Frau wurde dabei schwer verletzt. Ich rief sofort die Notrufnummer an. Aufgrund der Sprachbarriere verlief die Kommunikation sehr schlecht. Ich wusste nicht genau, wo wir waren, und konnte nicht genau beschreiben, was vor sich ging. Letztendlich dauerte es 90 Minuten, bis meine Frau abtransportiert werden konnte. Das war eine traumatische Erfahrung. Viel später sprachen wir zu Hause darüber, dass ein solcher Notruf auch anders verlaufen sollte. Mein Sohn Viktor, der damals 16 Jahre alt war, kam auf die Idee, dafür ein Smartphone zu verwenden. Vor allem, weil heutzutage fast jeder ein Smartphone hat. Deswegen haben wir das Unternehmen gegründet.”
Was ist das Besondere an Emergency Eye?
“Das Besondere ist, dass es hier um keine App geht. Es gibt bereits eine Menge Apps auf dem Markt, die automatisch einen Unfall melden können. Aber sie funktionieren alle auf unterschiedliche Weise. Bei Emergency Eye handelt es sich um eine Software-Anwendung in der Notfallzentrale der Rettungsdienste. Sobald eine Meldung reinkommt, sendet der Leitstellendisponent einen Link zu diesem Smartphone. Von diesem Moment an ist er nicht nur in der Lage, den genauen Ort des Unfalls zu bestimmen. Er kann auch die Kamera des Telefons benutzen, um die Situation vor Ort zu beurteilen.
So kann er entscheiden, welche Notdienste alarmiert werden müssen. Das kann der Unterschied zwischen der Entsendung eines Krankenwagens oder eines Rettungshubschraubers sein. Wir haben gerade eine neue Version des Systems eingeführt. Es ist jetzt auch möglich, einen Chat zwischen Anrufer und Zentrale einzurichten. Dies ist nicht nur eine Lösung für Menschen mit einem Hörproblem. Der Chat kann auch gleichzeitig alles übersetzen. Das System erkennt sofort, welche Sprache auf dem Telefon eingestellt ist und übersetzt im Chat alle Nachrichten des Disponenten und umgekehrt.”
Gab es irgendwelche Hindernisse, die am Anfang überwunden werden mussten?
“Wir haben von Anfang an erkannt, dass unser größtes Problem die Datenschutzbestimmungen ist. Deshalb haben wir direkten Kontakt zu internationalen Experten auf dem Gebiet des Datenschutzes und der Datensicherheit aufgenommen. Der Schutz der Privatsphäre und Daten hat für uns höchste Priorität.
Außerdem war es anfangs schwierig, herauszufinden, mit welchen Leuten man sprechen muss, um dieses System verkauft zu können. Da es sich um Schaltstellen offizieller Rettungsdienste handelt, ist der Kauf nicht nur eine technische Überlegung, sondern oft auch eine politische Entscheidung. Wir hatten den großen Vorteil, dass wir das System in Absprache mit Leuten, die in Leitstellen tätig sind, entwickelt haben. Das erleichterte die Einführung. Mittlerweile verfügen bereits 160 der 250 Leitstellen in Deutschland über dieses System.”
Worauf sind Sie besonders stolz?
“Wir sind besonders stolz darauf, dass wir als Familienunternehmen sehr schnell mit großen Parteien aus der Kommunikations-Welt zusammenarbeiten konnten. Natürlich sind wir auch stolz darauf, dass wir dies als Familie gemeinsam mit unseren Mitarbeitern erreicht haben. Dies ist auch nur möglich, weil wir alle an das Produkt glauben. Und erst kürzlich: Wir haben gerade die Nachricht erhalten, dass unser Patent auf das System erteilt wurde.”
Gibt es ähnliche Apps oder Systeme auf dem Markt?
Es gibt Apps auf dem Markt, die im Falle eines Unfalls auch einen Standort angeben können. Aber nichts davon ist wirklich ausgereift. Und so eine App müssen Sie erst einmal herunterladen. Wir haben es umgedreht. Niemand muss etwas herunterladen. Der Disponent wird dafür sorgen, dass Sie den bestmöglichen Kontakt haben. Es gibt inzwischen Unternehmen, die uns nachahmen wollen. Aber dank dieses Patents wird das nichts werden.”
Wo sehen Sie das Unternehmen in fünf Jahren?
“In fünf Jahren wollen wir unser Produkt noch weiterentwickelt haben. Wir werden dann auch künstliche Intelligenz hinzugefügt haben. Jetzt ist es Sache des Disponenten, alle zu diesem Zeitpunkt erforderlichen Entscheidungen zu treffen. Wir wollen, dass dieser Prozess durch künstliche Intelligenz unterstützt wird. Denn ein Disponent ist auch nur ein Mensch. Wir müssen das System also selbstlernend machen, damit die Erfahrungen aus früheren Notrufen in die Bearbeitung des Notrufs einfließen können.
Bis dahin werden wir auch ‚Speech-to-Speech‘ eingeführt haben. Dann ist es egal, welche Sprache Sie sprechen. Das System übersetzt alles für Sie. Es wird zweifellos noch viel mehr neue Dinge geben. Jedes Jahr organisieren wir den ‚Hackathon am Ring‘. Das ist ein ‚Hackathon‘ auf dem Nürburgring. Dort kam in einer Sitzung mit Menschen mit Hörproblemen die Idee für die Chat-Funktion auf. Aus dieser Sitzung werden zweifelsohne noch weitere neue Funktionen für Emergency Eye hervorgehen. ”
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Bildunterschrift: Der Mitarbeiter in der Leitstelle kann sich über die Kamera eines Smartphones, mit dem die Meldung gemacht wurde, sofort ein Bild des Unfalls machen.