Viren sind Bausteine des Lebens. Sie haben die menschliche Evolution ermöglicht. Sie können uns aber auch krank machen. „Wenn Viren krank machen, sind die Menschen meistens selber verantwortlich. Denn sie haben Balancen gestört“ sagt Virologin Karin Moelling.
Moelling ist eine renommierte, international hochgeschätzte Virologin. Besonders in der Aids- und Krebsforschung hat sie Bedeutendes geleistet und wurde vielfach für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Von ihrem Forschungsgegenstand ist sie nach wie vor fasziniert.
Es gibt mehr Viren als Sterne am Himmel. Es gibt keine Spezies auf dieser ganzen Welt, in der es keine Viren gibt. Sie sind überall. In jedem Lebewesen, in der Luft, in der Erde, im Meer.
Moelling erklärt in ihrem Buch ‚Supermacht des Lebens. Reisen in die erstaunliche Welt der Viren‘ wie wichtig Viren sind und dass sie uns um Grunde keinen Schrecken einjagen müssen – so wie jetzt die Coronaviren.
Leben mit Viren
Viren sind die größte biologische Population. Dass sie auf unserem gesamten Globus verteilt sind, dass sie Ozeane, Flora, Fauna und auch den Menschen besiedeln, ist allgemein bekannt. Aber Viren sind uns noch viel näher, als wir lange ahnten. 2001 erschien in der Zeitschrift Nature eine mit Spannung erwartete Veröffentlichung: Es war gelungen das menschliche Genom zu entschlüsseln. Und was wurde zur Überraschung aller gefunden? Viren! Das menschliche Erbgut besteht zu mindestens 50 Prozent aus Viren, ehemaligen Viren und virusähnlichen Elementen. 50 Prozent ist eine Schätzungen, es könnte auch weitaus mehr sein, sagt Karin Moelling.
Und das betrifft nicht nur uns Menschen. Die DNA aller Lebewesen auf diesem Planeten besteht zu unterschiedlichen Anteilen aus der DNA von Viren. Wie ist das möglich? Sind die Viren unsere Vorfahren? Dass Viren die ersten Lebewesen waren, der Ursprung des Lebens – das ist bisher noch eine Hypothese. Eine Hypothese, die Dr. Moelling ganz entschieden vertritt. Sie ist damit nicht allein. Aber es gibt auch Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass Bakterien die ersten Lebewesen gewesen sind. Viele sprechen den Viren ihre Lebendigkeit sogar komplett ab, da sie sich nicht selbstständig vermehren können. Sie benötigen dazu eine Wirtszelle. Das betrifft zumindest die heute vorkommenden Viren. Vor Milliarden von Jahren könnte das durchaus anders gewesen sein.
Virus und Wirt
Das Verhältnis von Virus zu Wirtszelle kann sich sehr unterschiedlich gestalten – von der Zerstörung der Zelle bis zu einer friedlichen Koexistenz zu beiderseitigem Nutzen. Viren können inaktiv in einer Zelle verharren. Ihre Vermehrung erfolgt dann durch die natürliche Teilung der Wirtszelle. Sie schädigen den Wirt dabei nicht. Sie können aber auch ihre eigene DNA in die des Wirts einbauen. Integrieren sie ihre DNA in die Keimzellen ihres Wirtes werden sie von Genreration zu Generation weitervererbt. Bestimmte Mechanismen können die Viren wieder aktivieren und sie veranlassen, sich in den Zellen zu vermehren. Oder sie bleiben, eingeschrieben in die DNA des Wirts, für alle Zukunft im Erbgut enthalten. Diesen Vorgang nennt man Endogenisieren. Er ist wohl dafür verantwortlich, dass unsere und die DNA aller Lebewesen einen großen Anteil an viraler DNA enthält.
Wir bestehen aus Viren. Das sollte uns jedoch keine Angst machen. Im Gegenteil. Die stetigen Veränderungen, die Viren in unserem Erbgut bewirkt haben und weiter bewirken, gehören zu unserer Evolutionsgeschichte, zu unserer Menschwerdung. Karin Moelling sagt: „Viren sind der Motor der Evolution.“
Von Viren lernen
Sie hat zwei markante Beispiele dafür, was wir durch Viren erlernt haben. Das erste betrifft unser Immunsystem. Haben Viren eine Zelle infiziert, dann wünschen sie dort keine Konkurrenz. Auch nicht von der eigenen Spezies. Sie verteidigen ihre Wirtszelle gegen andere Eindringlinge, lassen sie nicht ein oder vernichten sie. Das schützt uns vor weiteren Erregern. Wenn sie endogenisiert sind, d.h. sich in unserem Erbgut eingeschrieben haben, wird dieser Mechanismus zum Teil unseres Immunsystems. Viren verteidigen uns. Gegen andere Viren, aber auch gegen Bakterien. Vermutlich wurden alle bekannten Immunsysteme von Viren erbaut.
Ein zweites Beispiel betrifft die menschliche Fortpflanzung. Viren haben nicht nur unser Immunsystem erschaffen, es gibt auch Viren – den HIV-Viren nicht unähnlich – die die Fähigkeit haben, unser Immunsystem und damit den Schutz vor körperfremden Zellen partiell auszuhebeln. Aus diesem Grund müssen wir weder Eier legen noch unsere Nachkommen in einer Art Känguru-Beutel austragen. Durch die bewirkte Immuntoleranz wird der Embryo nicht vom Körper der Mutter abgestoßen und kann sich bis zur Geburt entwickeln.
Not macht erfinderisch
Wie sah die evolutionäre Entwicklungshilfe der Viren aus? Evolution heißt nicht notwendigerweise Höherentwicklung bzw. Zunahme an Komplexität. Sie kann auch in gegensätzlicher Richtung verlaufen: vom Komplizierten zum Einfachen. Gibt man bestimmten Viren ideale Lebensbedingungen, vereinfachen sie sich auf das Lebensnotwendige: die Fähigkeit zur Reproduktion. Auch das ist ein Prinzip des Lebens. Wir Menschen jedoch hatten nie ideale Lebensbedingungen. Im Gegenteil, wir mussten uns stetig unzähligen Herausforderungen stellen, uns an Umweltbedingungen anpassen um als Spezies zu überleben. Viren haben uns das ermöglicht, indem sie ständig Veränderung in unserer DNA bewirken, die letztlich zu neuen Bewältigungsstrategien führen. Die viele Zehntausende Jahre umfassende Geschichte der Gemeinschaft von Menschen und Viren ist in unseren Genen eingeschrieben.
Eine Viruserkrankung ist für das Erbgut ein großer Innovationsschub, da kommt mit einem Schwung ein Satz an Genen zum vorhandenen Erbgut hinzu. Das bringt Neues. Zumal Viren die größten Erfinder sind.
Gestörte Balancen
Gute Viren? Böse Viren? Weder noch. Einerseits sind die Viren Motor unserer Evolution. Andererseits gehören Infektionskrankheiten, bakterielle wie virale, zu den häufigsten Todesursachen weltweit. Doch dass ein Virus seinem Wirt gefährlich wird, hat meistens seine Ursache in einer gestörten natürlichen Balance. Ein Beispiel dafür sind die Ozeane. Viele Algen enthalten Viren. Wenn sie sich zu stark vermehren, werden die Viren in ihnen aktiviert. Sie beginnen die Algen aufzulösen und beenden somit Algenplagen. Die frei werdenden Bestandteile der Algen bieten Nährstoffe für andere Mikroorganismen. „Diese Viren regeln die Populationsdynamik von Algen. Algen und Viren sind seit Milliarden Jahren aufeinander eingespielt.“
Im Menschen existieren unzählige Virenarten, die zu unserem Mikrobiom, der Gesamtheit unserer natürlichen Mikroorganismen gehören. Aber es gibt auch pathogene, also potentiell krankmachende Viren in uns, ohne dass wir es überhaupt bemerken. Erst unter bestimmten Bedingungen werden sie aktiv. Ein bekanntes Beispiel ist das Herpes-Virus, das viele Menschen in sich tragen. Erst in Stresssituationen wird es rege und zeigt sich in seiner unangenehmen Erscheinung in Form von Lippenbläschen. Wir erkranken nicht nur durch Ansteckung, sondern auch, wenn wir uns überarbeitet haben, unterkühlt sind, aus unserem Gleichgewicht kommen.
Lebensrettende Viren
Karin Moelling ist eine ruhelose Forscherin, die in ihrem Gebiet ganz aufgeht. Nach vielen anderen beruflichen Stationen war sie von 1993 an Professorin für Virologie und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie der Universität Zürich. 2008 wurde sie emeritiert. Doch sie arbeitete weiter „den ganzen Tag und ununterbrochen“, wie sie sagt. Ihr neuer Forschungsgegenstand sind die multiresistenten Keime. Sie sind ein hochgefährliches Problem, besonders in unseren Krankenhäusern. Jährlich sterben in Deutschland bis zu 20.000 Menschen an Infektionen durch multiresistente Bakterien. Ursache sind zu häufiger und unnötiger Einsatz von Antibiotika. Aber auch Antibiotika in Tierfutter und mangelnde Hygiene in Krankenhäusern gehören dazu. Es gibt ein natürliches Mittel, mit dem krankmachende Bakterien bekämpft werden können. Und das sind Viren!
Auch Bakterien werden von Viren befallen, den sogenannten Phagen. Die Entdeckung der Phagen geht auf das Jahr 1917 zurück. Einige Jahre später kam Penicillin zur Anwendung und lief ihnen den Rang zur Bekämpfung bakterieller Erkrankungen ab. Doch nun könnten die Bakteriophagen lebensrettend sein. Zusammen mit einer internationalen Forschungsgruppe entwickelt Karin Moelling gerade eine entsprechende Therapie. Und ihr neues Buch zu diesem Thema ist auch schon fast fertig.
Evolutionssprung dringend gesucht
Über mögliche Ursachen der Zunahme von Epidemien in unserer Zeit möchte Frau Dr. Moelling nicht spekulieren. Ob man wirklich von einer Zunahme sprechen kann, ist ihrer Meinung nach noch nicht ausgemacht. Aber sie weist darauf hin, dass Viren in der dichten Bevölkerung der Großstädte und der enormen Mobilität ideale Ausbreitungsmöglichkeiten vorfinden. Die Wege von Virus zu Wirt sind extrem kurz. Entsprechend sind unsere Gegenmaßnahmen, wir schneiden ihnen durch die soziale Isolation die Wege ab. Umweltfaktoren wie die Luftverschmutzung könnten ein zusätzlicher Faktor für den „Erfolg“ der Coronaviren sein. Nun werden wir unsere Städte nicht entvölkern wollen und können. Und Globalisierung und Mobilität können nicht ohne Weiteres rückgängig gemacht werden. Es müssen andere Lösungen gefunden werden. Der Mensch muss sich wieder etwas einfallen lassen. Im Laufe der Evolution hat sich das Leben als extrem widerstandsfähig erwiesen. Allerdings, noch nie war etwas so zerstörerisch wie der Mensch selbst.
Grundlage dieses Textes ist ein im April diesen Jahres geführtes Interview sowie Karin Moellings Buch „Supermacht des Lebens. Reisen in die erstaunliche Welt der Viren“, erschienen 2015 im C.H.Beck Verlag.