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Warum wir über dieses Thema schreiben:

Das Start-up verfolgt einen holistischen Ansatz, der soziale und ökologische Probleme in der Modeindustrie lösen könnte.

Die traditionellen Produktionsverfahren in der Modeindustrie sind Stricken und Nähen. Stricken ist ein relativ nachhaltiger Prozess. Die einzelnen Schnittteile können gleich in der angestrebten Form gefertigt werden – und dadurch entsteht kein Abfall. Das Gros der Kleidungsstücke wird jedoch genäht – und Nähen ist enorm ressourcenintensiv. Denn beim Zuschnitt aus Meterware entsteht viel Stoffabfall – und das Zusammennähen der einzelnen Schnittteile ist anspruchsvoll und zeitaufwändig. 

Die amerikanische Rüstungsindustrie arbeitet zwar bereits mit Nährobotern, aber je flexibler das Material, desto mehr fehlt dem Roboter die Fingerfertigkeit, die es braucht, um Schnittteile aneinanderzufügen. 

Ungelöste Produktionsprobleme

Die Produktionsauslagerung in Billiglohnländer hat das Problem nicht gelöst, sondern nur verlagert – und zusätzliche Probleme geschaffen. Denn in den zumeist in Asien gelegenen Werkstätten herrschen ausbeuterische Arbeitsbedingungen – mit langen Arbeitszeiten und geringen Löhnen. „Wir können diese Probleme lösen und die Produktion wieder zurück nach Europa bringen“, erklärt Aniela Hoitink, Co-Gründerin und CEO des niederländischen Start-ups NEFFA. Sie hat gemeinsam mit der Technikerin Nicoline van Enter ein holistisches System entwickelt, das – neben Nähen und Stricken – zum nächsten großen Herstellungsverfahren in der Modeindustrie werden soll. 

Video: Formen statt Nähen: Das Start-up NEFFA entwickelt eine Alternative zum aufwändigen Nähprozess in der Modeindustrie

„Die Modeindustrie leidet an einer langen Lieferkette und einem umständlichen Procedere in der Produktion. Jedes Produkt ist individuell und erfordert eine neue Produktionslinie. Das heißt, die notwendigen Maschinen müssen in der bestmöglichen Reihenfolge angeordnet werden, um akkurate und schnelle Abläufe zu gewährleisten. Diese Umstellung der Produktionslinie ist sehr zeitaufwändig und bremst die Produktivität von Werkstätten“, erklärt Aniela. 

Zurück zur lokalen Produktion

Das in ihrem Start-up entwickelte System NEFFA macht diese Umstellung obsolet und bringt die Aussicht auf eine Produktion, die auch in Europa wieder leistbar sein könnte. Denn alle Arbeitsschritte werden von einem Roboter ausgeführt. Das könnte die Produktentwicklung enorm verkürzen – und die Umwelt entlasten. Denn aktuell werden Produktmuster mehrfach von Europa nach Asien und retour transportiert, um eine sorgfältige Verarbeitung sicherzustellen. Das ist ein Prozess, der sich über Monate zieht und die Umwelt durch den Transport mit CO2-Emissionen belastet. „Wir sind vor Ort und viel flexibler in der Produktion. Es bedarf keiner langen Transporte und nach einem erfolgreichen Testlauf kann schnell nachbestellt werden“, erklärt Aniela. 

Holistische Lösung

Das holistische Produktionssystem, das sie und die Technikerin Nicoline van Enter entwickelt haben, basiert auf einem Material aus Pilzwurzeln, das dreidimensional verarbeitet werden kann. Dadurch fällt der Nähprozess weg und die gesamte Produktion kann von einem Roboter ausgeführt werden. Wobei NEFFA nicht selbst eine Fabrik aufbaut, sondern als Wissensvermittler fungiert und mit Unternehmen kollaboriert, welche entscheidende Kompetenzen für die Lieferkette einbringen – vom Material über die Farbpigmente und die Produktion bis hin zur Beschichtung. Zwischen Materialproduktion und Beschichtung liegen nur einige wenige Produktionsschritte – und ein Zeitraum von sieben Tagen!

Den proof-of-concept haben die Gründerinnen schon erbracht. Aktuell kollaborieren sie mit dem deutschen Unternehmen Desma, einem der größten Hersteller von Maschinen für die Schuhproduktion. Laut Aniela gibt es bis dato zwei mögliche Produktionsstrategien. Ziel der Kooperation ist es, die geeignetere zu identifizieren. Gleichzeitig soll eine Pilotkollektion entstehen. Gemeinsam mit Partnern aus der Modeindustrie werden Prototypen entwickelt, die den individuellen Spezifikationen in Bezug auf Reiß- und Zugfestigkeit sowie Abnutzung entsprechen.

Produktion in 3D

Der aktuell zu testenden Produktionsmethode ging die Entwicklung von Mycotex  voran – ein Material, das aus Pilzwurzeln produziert wird. Es wird in großen Fermentern gezüchtet und ist nach fünf bis sieben Tagen reif für die Ernte. Nach einer entsprechenden Aufbereitung ist der Rohstoff pastenförmig, wird mit Pigmenten gefärbt und kann zu einem Kleidungsstück verarbeitet werden.

Wesentliche Produktionstools sind ein Roboterarm und eine vorab definierte Form. Der Roboter bringt die weiche Masse auf die Form auf und im Trocknungsprozess entsteht ein Textil in 3D-Form, das fest aber flexibel ist. Wenn das Produkt von der Form abgelöst ist, muss es nur noch beschichtet und der finalen Verarbeitung zugeführt werden.

Flexible Produktion

Ein großer Vorteil der Produktionsmethode ist die Flexibilität. Der vollautomatisierte Prozess kann sowohl für Kleidung als auch für Accessoires und Schuhe eingesetzt werden. Die Produktionsmethode erfordert weder hohe Temperaturen noch Druck. Dadurch kann die Form blasenartig sein und verschiedene Gestalten annehmen. Der Roboter erkennt die Gestalt und arbeitet auf Basis der Informationen, die er von der Form erhält. Dadurch kann derselbe Roboter, der eine Tasche herstellen kann, auch das Oberteil eines Schuhs oder ein Kleidungsstück herstellen. 

Um der Modeindustrie zu beweisen, dass sie als Start-up relevant sind, möchten die Gründerinnen zunächst hohe Stückzahlen produzieren. Langfristiges Ziel ist es jedoch, auf Anfrage von Verbrauchern – und nach deren Körpermaßen zu produzieren. Dann könnten Verbraucherinnen das gewünschte Modell online bestellen, ihre Bodyscans hochladen und nach kurzer Zeit ihr personalisiertes Kleidungstück entgegennehmen. 

Vliesartiges Material

Das Material hat einen soften Charakter. Von der Anmutung liegt es zwischen Leder und Plastik. Die Materialoberfläche kann glatt oder strukturiert sein. Aniela zeigt eine Tasche, deren Oberfläche große Ausstülpungen in Kegelform aufweist – eine neuartige Ästhetik, die noch nie dagewesen ist – und erst durch die Herstellungsmethode möglich wurde. Ein konventionelles Beispiel für die Möglichkeit des Textierens ist eine krokodillederartige Struktur. 

Laut Aniela kann Mycotex für viele in der Modeindustrie gebräuchliche Materialien eingesetzt werden, weil es in Stärke, Flexibilität und Textur variiert werden kann. Derzeit erlebt das Start-up eine starke Nachfrage aus der lederverarbeitenden Industrie. Aniela: „Hier gibt es eine Reihe an Unternehmen, die bereits mit Myzelium arbeiten. Für sie ist unsere Produktionsmethode der nächste Schritt.“ 

Kompostierbar

Mycotex hat den Vorteil, dass es umweltschonend aus einem nachwachsenden Rohstoff gewonnen werden kann. Am Ende des Lebenszyklus kann das Kleidungsstück vom Nutzer ganz einfach zu Hause kompostiert werden. Aniela und Nicoline wollen aber nicht nur mit Myzel arbeiten, sondern auch die Entwicklung anderer Materialien vorantreiben – wie etwa collagen- oder algenbasierte Rohstoffe, in denen sie großes Potenzial sehen. Das von ihnen entwickelte Produktionsverfahren eignet sich prinzipiell für alle biotechnologisch hergestellten Materialien.