Im Rahmen von Experimenten, die durch das European Research Council (Advanced Grant SelfOrg) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt wurden, haben Münchener Physiker eine revolutionäre Entdeckung gemacht, die völlig neue Einblicke in die Vielfalt biologischer Prozesse gewährt. Ein Team um die Professoren Andreas Bausch der Technischen Universität München (TUM) und Erwin Frey der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), hat bei der Untersuchung eines aktiven Modellsystems entdeckt, dass es bei Systemen, deren Teile sich aktiv bewegen – wie zum Beispiel Vogelschwärmen, Bakteriensuspensionen oder auch dem Zytoskelett, das aus fadenförmigen Zellstrukturen besteht – einzigartige Phänomene der Musterbildung gibt: Es können, trotz identischer Ausgangsbedingungen, gleichzeitig zwei unterschiedliche Zustände existieren, die sich dynamisch ineinander umwandeln.
Bei einer solchen „aktiven Materie“ können sich aber nicht nur gleichzeitig verschiedene dynamische Muster bilden, es werden auch auf mikroskopischer Ebene sehr subtile Variationen auf makroskopischer Ebene nicht nivelliert. Im Gegenteil. Sie haben große Auswirkungen auf das Gesamtsystem.
Als Modellsystem verwendeten die Forscher den sogenannten Motility Assay, einen Test, bei dem Proteine, sogenannte Aktinfilamente, auf einen „Teppich“ aus Motorproteinen gegeben werden. Die Filamente binden an die Motorproteine und werden von diesen weiter transportiert. „In der Regel fahren die Filamente auf den Motorproteinen in wellenartigen Clustern“, sagt Lorenz Huber, Doktorand in Freys Team, und zusammen mit seinen Kollegen Ryo Suzuki und Timo Krüger Erstautor des Papers.
Bei weiteren Experimenten in Prof. Bauschs Labor fanden die Wissenschaftler heraus, dass sehr kleine lokale Modifikationen das System auf makroskopischer Ebene grundlegend ändern können. So wird zum Beispiel durch die Zugabe einer kleinen Menge Polyethylenglycol das für die Aktinfilamente verfügbare Volumen reduziert. Dadurch verändert sich nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Art der Wechselwirkungen, und das Ergebnis sind Muster, die an sich kreuzende Ameisenstraßen erinnern. „Gewöhnlich wird davon ausgegangen, dass auf größeren Skalen kleine Details nicht mehr von Belang sind – in diesem System allerdings wirken sich kleine Unterschiede immer stärker aus, je weiter man aus dem System hinaus zoomt“, erklärt Bausch.
In einem neu entwickelten, theoretischen Modell, das die Bewegung der Filamente abbildet und die experimentellen Ergebnisse widerspiegelt, konnten die Forscher demonstrieren, dass es einen Parameterbereich gibt, in dem sowohl Wellenmuster als auch Ameisenstraßen entstehen können – und in dem beides stabile Zustände sind. „Mit dieser Bistabilität haben wir eine ganz neue Phase der Materie identifiziert“, sagt Frey. In weiteren Laborexperimenten konnten beide Zustände gleichzeitig erzeugt werden. Hierbei „löschen“ die polaren Wellen die Ameisenstraßen, während sie darüber laufen, hinterlassen aber gleichzeitig eine Art Moräne, die dann wieder zu einer Ameisenstraße wird. Zwischen den beiden Mustern entsteht ein dynamisches Wechselspiel.
Die Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Erkenntnis, dass aktive Systeme die Fähigkeit haben, bei identischen Ausgangsbedingungen unterschiedliche Muster auszubilden, entscheidende Auswirkungen auf mehrere Forschungsbereiche haben und neue Einblicke in biologische Prozesse ermöglichen könnte.