Zugegeben, ein begeisterter Kletterer hat selten Höhenangst. Aber: Er hat die Angst in die Tiefe zu fallen und sich zu verletzen. Diese Angst zeigt sich, je nachdem auf welchem Level sich der Kletterer befindet, bei jedem Menschen in einer anderen Höhe. Ein Anfänger mag sie also schon ein paar Meter über dem Boden empfinden, während ein besserer Kletterer hier sicher ganz andere Toleranzschwellen vorweisen kann.
Exposition als Ansatz
Um die Angst zu überwinden, gibt es im Sport einen goldenen Weg, der aus der Psychotherapie stammt: Die Exposition. Der „Patient“ beziehungsweise Sportler setzt sich also immer wieder gezielt und dosiert der ihm die Angst verursachenden Situation aus. Und das Gute bei Höhenangst ‒ auch wenn sie in diesem Fall nicht eine irrationale Phobie ist, sondern sich mit dem Selbsterhaltungstrieb begründet ‒, sie kann besonders erfolgreich therapiert werden. Durch die stete Konfrontation lernt der Mensch, dass nicht sofort sein Leben bedroht ist, nur weil er sich ein paar Meter über dem Boden befindet und unter ihm die Tiefe liegt. Letztendlich ist also die Überwindung der Angst eine Sache der Übung, die viel Geduld braucht, aber durchaus von Erfolg gekrönt ist.
Doch vor zu viel Ehrgeiz sei gewarnt: Wer seine Komfortzone zu weit verlässt, riskiert Panikattacken. Und diese zeigen sich mit Herzklopfen, Atemnot, Schweißausbrüchen und zittrigen Knien. Symptome, die für das Klettern an Felswänden ziemlich kontraproduktiv sind. Zumal sich dieses mulmige Gefühl auch gleich für die nächste Tour einprägt. Somit macht es also durchaus Sinn, ein System zu haben, das die Komfortzone bequem absichert. Eines, das eine bestmögliche Therapie – beziehungsweise in diesem Fall einen bestmöglichen Trainingserfolg ‒ garantiert.
Drei Versuchsanordnungen
Und genau an einem solchen arbeitet der begeisterte Kletterer, Student und Wissenschaftler des Technologie-Zentrums für Informatik und Informationstechnik der Uni Bremen, Peter Schulz. Für seine Masterarbeit mit dem Titel „Effects of Physical Interaction While Sport Climbing in Virtual Reality“ untersuchte er, inwieweit durch Virtual Reality (VR) die Höhenangst beim Klettern überwunden werden kann. Hierfür führte er mit insgesamt 28 teilweise leistungsstarken, durchschnittlich guten männlichen und weiblichen Kletterern drei verschiedene Versuche durch. Alle drei sollten das Klettern in zehn Metern Höhe darstellen. Sein Forschungslabor richtete er im Kletterzentrum des DAV-Bremen ein.
Hier kletterten die Probanden zum einen real und mit Sicherung per Topseil. Bei der zweiten Versuchsanordnung befanden sie sich während des Kletterns an realen Griffen und waren in Bodennähe auf der gleichen Route unterwegs. Das Besondere an dieser Situation war, dass die Probanden zwar einerseits jederzeit unproblematisch aussteigen konnten, gleichzeitig aber durch das freie Klettern (Free Solo) in Kombination mit den VR-Bildern von zehn Metern Kletterhöhe eine begründete Sturzangst hatten. Bei der dritten Versuchsanordnung kletterten die Probanden nur virtuell. Sie hatten also nur die VR-Brille auf und Controller, wie sie von Spielekonsolen bekannt sind, vor sich.
VR bei gleichzeitiger physischer Betätigung realitätsnah
Bei dem Experiment, das von den Professoren Dr. Rainer Malaka und Dr. Johannes Schöning betreut wurde, ging es Schulz vor allem darum, möglichst realistische Eindrücke von Aktivitäten in der Höhe zu erzeugen. Denn er wollte mit Hilfe von an den Probanden angebrachten Sensoren das Angst- und Stressempfinden beobachten. Für seine Untersuchungen führte der Student anschließend persönliche Befragungen durch. Zudem zeichnete er die Herzfrequenz (HR), den Puls, die Ratenvariabilität (HRV), die Resorptionsrate (RR) sowie die elektrodermale Aktivität (EDA), also eine erhöhte Schweißproduktion mit Zunahme der Hautleitfähigkeit, auf.
Schulz fasst die Ergebnisse wie folgt zusammen:
Wir konnten beobachten, dass einige Effekte auf Bodenhöhe mit Virtual Reality auftreten, die ohne VR nur in der Höhe stattfinden. Dabei wurde ein Stresslevel beim Kletterer erzeugt, das dem des realen Kletterns entspricht.“
Das ausgelöste Höhengefühl hängt also mit zwei Faktoren zusammen: Einmal der physischen Betätigung beim Klettern sowie der Virtual Reality, die den Menschen virtuell in die Höhe befördert. „Wir konnten auch zeigen, dass etwas zum Anfassen sehr wichtig ist – also richtige Griffe“, so Schulz. Das Klettern allein mit den Controllern wirkte auf die Anwender weniger realistisch.
Weitere Schritte geplant
Die VR-Kletterbrille scheint also für jeden interessant, der sein Niveau in der Vertikalen erhöhen möchte, es aber aus Angst bisher noch nicht geschafft hat. Dies kann ein Anfänger sein, aber durchaus auch ein fortgeschrittener Kletterer. Zunächst ist geplant, die Erkenntnisse in effektive Trainingspläne für Kletterer zu integrieren. Dafür sollen Tests mit den Sportlern durchgeführt werden.
Schulz brachte übrigens in die Arbeit sein langjähriges Kletter-Know-how sowie die Erfahrungen als Jugendleiter beim DAV ‒ wo er sich intensiv mit der Vermittlung von Kletterwissen befasst ‒, mit ein. Auch die beiden Gutachter, Prof. Dr. Rainer Malaka und Prof. Dr. Johannes Schöning sind Kletterer. Gleichzeitig beschäftigen sie sich intensiv mit den Forschungsbereichen Digitale Medien und Mensch-Maschine-Interaktion inklusive VR. Nachzulesen ist die gesamte Arbeit hier.