Das sieht für die deutsche Nationalmannschaft gar nicht gut aus. Geht es nach statistischen Modellen, die Wissenschaftler mehrerer europäischer Universitäten aufgestellt haben, werden Jogi Löw und seine Jungs bei der EM, die am Freitag, den 11. Juni beginnt, wohl leer ausgehen und schon vorzeitig ihre Koffer packen können. Ein internationales Forscherteam bestehend aus Andreas Groll und Franziska Popp (beide TU Dortmund), Gunther Schauberger (TU München), Christophe Ley und Hans Van Eetvelde (beide Universität Gent), Achim Zeileis (Universität Innsbruck) und Lars Hvattum (Hochschule Molde, Norwegen) hat mit Hilfe von maschinellem Lernen ausgerechnet, dass Frankreich nach dem WM-Titel 2018 wohl auch den EM-Titel holen wird.
Anhand von statistischen Modellen mit Informationen über die Team-Struktur (z.B. Marktwert, Anzahl Champions-League-Spieler, Vereinsspiele-Performance einzelner Spieler) und sozio-ökonomische Faktoren des Herkunftslandes (Bevölkerung und Bruttoinlandsprodukt) simulierten sie die gesamte EM 100.000 Mal Spiel für Spiel. Sie folgten dabei der Turnierauslosung und allen UEFA-Regeln. Aufgrund aller Wahrscheinlichkeiten für das Weiterkommen aller Teams in die einzelnen Turnierrunden war am Ende Frankreich mit einer Gewinnwahrscheinlichkeit von 14,8 Prozent der erste Anwärter auf den Sieg. Auf Platz zwei und drei folgten England mit 13,5 Prozent und Spanien mit 12,3 Prozent.
Prognosen können auch danebenliegen
Die Forscher mussten jedoch zugeben, dass dieser Ausgang des Turniers alles andere als sicher ist. Immerhin sind die Abstände an der Spitze ausgesprochen knapp – und die Gewinnwahrscheinlichkeit mit gerade mal etwas über zehn Prozent sowieso recht niedrig. “Es liegt in der Natur von Prognosen, dass sie auch danebenliegen können – sonst wären Fußball-Turniere auch sehr langweilig”, sagt Achim Zeileis. “Wir liefern eben Wahrscheinlichkeiten, keine Gewissheiten, und eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 15 Prozent heißt zugleich, dass die Mannschaft zu 85 Prozent nicht Turniersieger werden kann.”
Trotzdem zeigen die Ergebnisse aus der Vergangenheit, dass die Prognosen recht treffsicher waren. Bereits 2008 beim EURO-Finale und 2010 und 2012 bei der WM und EM sagte das Innsbrucker Modell von Achim Zeileis, das auf bereinigten Quoten der Wettanbieter basiert, Spanien als Welt- und Europameister vorher. Für die EM in diesem Jahr setzen die Wissenschaftler das Modell als Teil eines umfassenderen kombinierten Modells ein. Dieses wurde von den Teams um Andreas Groll (TU Dortmund), Gunther Schauberger (TU München) und Christophe Ley (Universität Gent) entwickelt und zeigte sich bei der Fußball-WM 2018 treffsicherer bei den Prognosen als die Wettanbieter.
Und Deutschland?
Die deutsche Nationalmannschaft um Kapitän Manuel Neuer sieht sich nach der Auslosung schon bei den Gruppenspielen einigen Herausforderungen gegenüber. “In Gruppe F sind drei sehr starke Teams, darunter der amtierende Weltmeister Frankreich und der Europameister Portugal, beide zugleich die Finalisten der EURO 2016, plus eben Deutschland“, erläutert Andreas Groll. “In dieser Gruppe ist die Wahrscheinlichkeit deshalb verglichen mit den Favoriten in den anderen Gruppen geringer, es bis ins Achtelfinale zu schaffen. Wer das aber schafft, hat dann ganz gute Chancen, weiterzukommen.“
Laut der Prognose haben sowohl Deutschland als auch Portugal eine 85,3-prozentige Chance, es zumindest ins Achtelfinale zu schaffen. Für Frankreich stehen die Chancen laut des Modells übrigens bei 89,7 Prozent. Und die Chancen auf den Titelgewinn für Deutschland? Magere 10,1 Prozent. Gleichauf mit Portugal.
Einfacheres Los für Österreich, aber…
Die Nationalmannschaft Österreichs sollte die Vorrunde in den Gruppenspielen gegen die Niederlande, Nordmazedonien und die Ukraine ganz gut überstehen. Im Gegensatz zu 2008 und 2016. “Favorit in der Gruppe sind auch laut unserem Modell eindeutig die Niederlande, danach folgt aber schon Österreich, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 80,9 Prozent das Achtelfinale erreicht”, erklärt Achim Zeileis. “Das ist deutlich wahrscheinlicher als für die Ukraine und Nordmazedonien.“ Viel weiter wird die Mannschaft laut der Prognose aber wohl kaum kommen. Die Chancen, den Pokal nach Österreich zu holen, stehen gerade mal bei 1,5 Prozent.
Machine Learning
Aufgebaut ist das Modell auf vier Informationsquellen: Von der Universität Gent kommt ein statistisches Modell für die Spielstärke jedes Teams auf Basis aller Länderspiele der vergangenen acht Jahre. Die Universität Innsbruck steuerte ein statistisches Modell für die Spielstärke der Teams auf Basis der Wettquoten von 19 internationalen Buchmachern bei. Von der TU Dortmund und der TU München Universität Innsbruck stammen schließlich weitere Informationen über die Teams, zum Beispiel der Marktwert, und ihre Herkunftsländer und deren Bevölkerungszahlen. Von der Hochschule Molde wurden schließlich Informationen miteinbezogen wie detaillierte Ratings der einzelnen Spieler und deren individueller Performance, sowohl in ihren Stammvereinen und Nationalmannschaften.
Als fünfte Quelle bzw. fünfter “Partner“ diente ein Machine-Learning-Modell, das die anderen vier Quellen zusammenführt und sie schrittweise optimiert. Dazu haben die Forscher das Modell zuvor mit historischen Daten trainiert. “Wir haben das Modell mit den jeweils zu dem Zeitpunkt aktuellen Daten für die vergangenen vier Europameisterschaften, also zwischen 2004 und 2016, gefüttert und mit den tatsächlichen Spielausgängen aller Spiele der jeweiligen Turniere vergleichen lassen – so wird die Gewichtung der einzelnen Informationsquellen für das aktuelle Turnier im Idealfall sehr genau ausfallen“, erklärt Andreas Groll.
Die Antwort auf die Frage, wie akkurat die Vorhersagen des Modells sind, gibt es spätestens beim Finale am 11. Juli.
Die gesamte Prognose mit interaktiven Grafiken gibt es hier: http://bit.ly/forecast-euro2020
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