Vorsichtiges Vorantasten auf der Straße und in unbekannter Umgebung mit Hilfe eines Blindenstocks könnte für blinde und stark sehbehinderte Menschen irgendwann der Vergangenheit angehören. Dank eines intelligenten Schuhs, der seine Umgebung aus der Fußperspektive scannt und Hindernisse erkennt. Entwickelt hat den Schuh “InnoMake”, der seit Kurzem als Medizinprodukt zugelassen ist, die Niederösterreichische Firma Tec-Innovation. Er soll die persönliche Mobilität von blinden und sehbeeinträchtigten Menschen sicherer gestalten. “Ultraschall-Sensoren an der Schuhspitze erkennen Hindernisse in bis zu vier Metern Entfernung”, sagt Markus Raffer, einer der Gründer von Tec-Innovation und selbst sehbeeinträchtigt. “Die Trägerin oder der Träger wird daraufhin per Vibration und/oder akustischen Signalen gewarnt. Das funktioniert sehr gut und ist auch mir persönlich schon eine große Hilfe.”
Bereits in der Entwicklungsphase haben Raffer, sein Gründungspartner Kevin Pajestka und ihr Team festgestellt, dass alleiniges Erkennen eines Hindernisses aber nicht genügt. Insbesondere die die Art des Hindernisses und dessen Richtungsverlauf sind entscheidend. Ganz besonders, wenn es abwärts führt, wie Treppen oder auch Löcher. “Nicht nur die Warnung, dass ich vor einem Hindernis stehe, sondern auch die Information, vor welchem Hindernis ich stehe, ist relevant. Denn es macht einen großen Unterschied, ob das eine Mauer, ein Auto oder eine Treppe ist“, so Raffer.
KI erkennt begehbare Bereiche
Seit 2016 arbeitet Tec-Innovation mit der TU Graz als Kooperationspartnerin zusammen, wo Forscher des Instituts für Maschinelles Sehen und Darstellen eine kamerabasierte Ergänzung der ersten Produktversion entwickelt haben. “Wir haben modernste Deep-Learning Algorithmen nach dem Vorbild neuronaler Netzwerke entwickelt, die nach Erkennung und Interpretation des Bildinhalts im Wesentlichen zwei Dinge können: Sie ermitteln aus Kamerabildern aus der Fußperspektive einen hindernisfreien und damit gefahrlos begehbaren Bereich. Und sie können Objekte erkennen und unterscheiden,“ erklärt der Informatiker Friedrich Fraundorfer.
Laut Aussagen der Wissenschaftler können die mittels Machine Learning trainierten Algorithmen bereits heute auf einem eigens konzeptionierten mobilen System betrieben werden. Dazu sei Dank neuester, leistungsstarker Spezialprozessoren mittlerweile auch die mobile Verwendung der komplexen KI-Algorithmen möglich. “Das ist der enormen Prozessor-Entwicklung der vergangenen Jahre zuzuschreiben“, betont Fraundorfers Kollege David Schinagl.
Navigationskarte soll Daten zusammenführen
Momentan wird bei Tec-Innovation daran gearbeitet, das System – Kamera plus Prozessor – so in einen Prototyp-Schuh zu integrieren, dass es sowohl robust als auch komfortabel zu tragen ist. An der TU Graz geht man gedanklich schon einen Schritt weiter. Friedrich Fraundorfer und sein Team wollen alle Informationen, die der Schuh sammelt, während sein Träger damit unterwegs ist, in eine Art Streetview-Navigationskarte für sehbeeinträchtigte Menschen zusammenführen. “Nach derzeitigem Stand profitiert jeweils nur der Träger oder die Trägerin von den Daten, die der Schuh beim Gehen sammelt”, sagt Fraundorfer. “Viel nachhaltiger wäre es, wenn man diese Daten auch anderen Menschen als Navigationshilfe zur Verfügung stellen könnte.”
Zur Zeit läuft ein Förderantrag bei der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG für die Konzeption und prototypische Umsetzung einer solchen Streetview-Karte für blinde und sehbeeinträchtigte Personen. Wann eine derartige Navigationsunterstützung Realität wird, steht jedoch noch in den Sternen. Laut Fraundorfer bestehen die größten Hürden darin, die Karte laufend zu erweitern und zu aktualisieren. Darüber hinaus aber auch “die Verknüpfung mit bisherigen Daten und die IT-Anbindung des Schuhsystems”. Dennoch ist er sicher, dass der Blindenstock irgendwann ausgedient haben wird. “Wir werden jedenfalls weiter an dem Thema dranbleiben. Denn in unserer hochinnovativen Welt muss auch eine Alternative zum über 90 Jahre alten Blindenstock möglich sein.“
Titelbild: Der Innomake-Schuh, wie er jetzt schon am Markt erhältlich ist. An der Schuhspitze ist der Ultraschallsensor angebracht. Künftig sollen dort eine Kamera plus ein Prozesser, auf dem der Algorithmus läuft, integriert sein. © Lunghammer – TU Graz