Der Biochemiker Christian Gruber von der Medizinischen Universität Wien forscht nach therapeutischen Anwendungen auf Basis pflanzlicher und tierischer Mechanismen. Aktuell beschäftigt ihn die Frage, wie Hormone und Rezeptoren von Insekten für die therapeutische Anwendung beim Menschen genutzt werden kann. In diesem Zusammenhang hat er die Funktion von Oxytocin-Neuropeptiden in Heuschrecken untersucht. Forschungspartner ist der Insektenbiologe Jozef Vanden Broeck vom Department für Tierphysiologie und Neurobiologie an der Universität Leuven in Belgien. Heuschrecken sind sicher keine klassischen Modelltiere in der Neurobiologie. Aber die Biologie dieser Insekten könnte doch höchst relevante Erkenntnisse für die Pharmakologie bringen – und einen Bauplan für nebenwirkungsarme Arzneimittel liefern.
Botenstoffe des Nervensystems
Es ist bekannt, dass bestimmte Botenstoffe des Nervensystems, sogenannte Neuropeptide, eine wichtige physiologische Bedeutung zum Beispiel für das Verhalten und den Wasserhaushalt von Heuschrecken und anderen Insekten haben. Neuropeptide spielen im Nervensystem bei der Erregungsübertragung eine Rolle – als Neurotransmitter, -modulatoren oder -hormone. Wie Gruber und sein Team von der Medizinischen Universität Wien, in einem früheren Projekt herausgefunden haben, sind es zum Beispiel bei Ameisen spezielle Neuropeptide, welche die Futtersuche, die Bewegungsaktivität und den Metabolismus regulieren. Viele Insektenarten verfügen über die genetischen Grundlagen eines Hormonsystems, das dem des Menschen entspricht und das auf den Neuropeptiden Oxytocin und Vasopressin basiert.
Die Neuropeptide Oxytocin und Vasopressin
Oxytocin bezieht sich auf den altgriechischen Begriff okytokos, der übersetzt soviel wie leicht gebärend bedeutet. Tatsächlich beeinflusst es – gemeinsam mit dem Hormon Vasopressin – unter anderem die Wehentätigkeit im Geburtsverlauf. Später stimuliert es den Milchfluss der Mutter und vieles mehr. Vasopressin spielt insbesondere bei der Regulierung des Wasserhaushalts in den Nieren eine wichtige Rolle, beeinflusst aber auch die Durchblutung der Gebärmutter.
Sowohl Oxytocin als auch Vasopressin zählen zur großen Familie der G Protein-gekoppelten Rezeptoren – der bekanntesten Gruppe von Angriffspunkten für medizinische Wirkstoffe. „Circa 30 Prozent aller gängigen Arzneimittel beruhen auf diesen Rezeptoren, zum Beispiel jene gegen Bluthochdruck oder Herzerkrankungen“, erläutert Gruber. „Über diese Rezeptoren lassen sich, vereinfacht gesagt, Informationen in das Innere unserer Zellen transportieren. Gleichzeitig werden dabei verschiedene molekulare Signalwege in den Zellen aktiviert. Dies führt zu erwünschten, aber auch unerwünschten Wirkungen – sogenannten Nebenwirkungen.“
Unerwünschte Nebenwirkungen
Als Beispiel für unerwünschte Nebenwirkungen bei Medikamenten, welche über G Protein-gekoppelte Rezeptoren wirken, nennt der Forscher die Opioid-Rezeptoren, an die opioidhaltige Schmerzmittel wie etwa Morphin andocken. Problematisch am klassischen Schmerzstiller Morphin ist, dass er abhängig machen kann. Diese Abhängigkeit kann zu Überdosierung und in der Folge zu Atemstillstand führen. Daher sind Morphin und ähnliche Moleküle, der Auslöser für die Opioidkrise in Amerika, die sich in der Pandemie noch zugespitzt hat. Von 1999 bis März 2021 starben fast 841.000 Menschen durch eine Opioid Überdosis (Quelle: US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention CDC).
Pharmakologische Mechanismen
Es gibt eine evolutive Ähnlichkeit zwischen G Protein-gekoppelten Rezeptoren – und auch in gewisser Weise zwischen Opiatrezeptoren und Oxytocin/Vasopressin-Rezeptoren. Allerdings sind Opiatrezeptoren nicht bis in die Insekten nachzuvollziehen. Deshalb ist Oxytocin/Vasopressin primär interessant für eine Grundlagenforschung, die pharmakologische Mechanismen nachvollziehbar macht. Außerdem kann die Wissenschaft an den Insekten die Physiologie dieser Systeme erforschen, was am Menschen nicht immer einfach möglich ist. „Was wir unter anderem bei den Oxytocin/Vasopressin-Rezeptoren gelernt haben, ist, wie man mithilfe eines Insekten Neuropeptids selektiv einen menschlichen Rezeptor angreifen und alle anderen unbeeinflusst lassen kann“, erklärt Gruber.
Was wir unter anderem bei den Oxytocin/Vasopressin-Rezeptoren gelernt haben, ist, wie man mithilfe eines Insekten Neuropeptids selektiv einen menschlichen Rezeptor angreifen und alle anderen unbeeinflusst lassen kann.
Professor Christian Gruber
Grundprinzip des Versuchs
„Wir studieren die Pharmakologie des Insektensystems integrativ und vergleichen das auf molekularer Ebene. Dadurch wollen wir herausfinden, welcher Baustein des Hormons mit welchem Baustein des Rezeptors interagiert. Diesen Vorgang könnten wir dann von den Insekten zum Menschen nachvollziehen. Über die evolutive Ähnlichkeit sind wir dann in der Lage, einzelne Schaltstellen (Aminosäuren), in diesem System zu erkennen. Diese Schaltstellen könnten wir chemisch so am Neuropeptid verändern, dass wir eine gezielte Wirkung herbeiführen können“, erklärt Gruber das Grundprinzip des Versuchs.
Nebenwirkungsarme Arzneimittel
Wenn die Forschenden den evolutionären Bauplan und die molekulare Wirkungsweise im Oxytocin/Vasopressin-System verstehen, können sie dies auch auf andere Rezeptoren aus dieser Klasse übertragen; auf Rezeptoren, in welche die Wirkstoff-Forschungsindustrie aktuell mehr investiert, als in Oxytocin/Vasopressin. Das Molekül, das die Forschenden aus den Heuschrecken und anderen Insekten isoliert haben, wurde in chemisch leicht veränderter Form dann an den menschlichen Rezeptoren getestet. So erhielten sie molekulare Werkzeuge, die im menschlichen System gezielt einen Rezeptor – oder einen Signalweg – aktivieren können. Damit könnte es in Zukunft gelingen, optimierte Wirkstoffe für Menschen zu generieren, die unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln ausschalten.
Die gezielte Signalweitergabe wird im Fachjargon Biased Signalling genannt – und im Fall der Opiate wisse man schon, dass sich dadurch sehr wohl Wirkstoffe herstellen lassen. Es gebe auch schon ein zugelassenes Medikament am Markt, von welchem man sich weniger Nebenwirkungen erwartet, als zum Beispiel bei gängigen Opioiden. Allerdings bedarf es weiterer Forschungen, um derartige nebenwirkungsarme Arzneimittel im Markt zu etablieren.
Krankheitsfindung
Darüber hinaus könnten die Erkenntnisse aus dem Projekt auch in der Krankheitsfindung angewendet werden. So planen die Forschenden zum Beispiel mit bildgebenden Verfahren zu arbeiten, wie etwa dem PET-Imaging (positron emission tomography), bei dem man mit Radiotracern die Moleküle im Organismus nachverfolgen kann. Eine Methode, welche die Forschenden auf Oxytocin/Vasopressin-Ebene weiterführen wollen. Kooperationspartner ist Markus Muttenthaler vom Institut für Biologische Chemie an der Universität Wien und dem Institute for Molecular Biosciences an der University of Queensland, der eine Technik entwickelte, mit der man die selektiveren Oxytocin Liganden mit Farbstoffen versehen kann. „Wenn dieses Verfahren vom Tierversuch auf den Menschen übertragbar ist, dann könnten wir zum Beispiel nachvollziehen, in welchen Hirnregionen die einzelnen Rezeptoren denn überhaupt vorhanden sind. Das klingt banal, ist aber wichtiges Wissen und noch nicht völlig erforscht“, erklärt Gruber.
Schädlingsbekämpfung
Letztendlich könnten die Erkenntnisse auch gegen das Forschungsobjekt selbst angewendet werden – um eine Heuschreckenplage einzudämmen, die Jahr für Jahr die Landwirtschaft bedroht. Das ist ein wichtiges Forschungsgebiet, das nicht nur Kooperationspartner Vanden Broeck verfolgt, sondern mehrere Forschungsgruppen weltweit. Prinzipiell wäre es denkbar, gezielt mit einem Inhibitor beziehungsweise Blocker zum Beispiel die Fortpflanzung von Heuschrecken zu unterbinden, oder deren Wasserhaushalt durcheinanderzubringen. Zum Beispiel indem man bestimmte Nahrungspflanzen der Heuschrecken mit diesem Inhibitor besprüht oder anreichert, damit diese den Stoff beim Fressen der Pflanzen gleich mit aufnehmen. Damit könnte die Agrarproduktion und die Lebensqualität in den betroffenen Regionen gesteigert werden.
Das Projekt Funktion von Oxytocin-Neuropeptiden in Heuschrecken wurde unter anderem vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert.