Davon können viele Menschen auch in herkömmlichen Autos ein Lied singen – ohne dass sie auch noch entgegen der Fahrtrichtung sitzen: Während der Fahrer gelassen um die Kurven und die Berge rauf und runter fährt, ist den Mitreisenden auf der Rückbank übel. Oder man sitzt auf dem Beifahrersitz und liest. Der gleiche Effekt, die gleiche unangenehme Übelkeit. Die äußeren Umstände sind dabei auch immer gleich: Man sieht nicht, wo die Reise hingeht. „Reisekrankheit ist eine große Herausforderung für die Entwicklung autonomer Fahrzeuge“, sagt Prof. Dr. Heinrich Bülthoff, Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. „Wenn wir an geschlossene Kabinen denken, die in der Zukunft quasi als fahrendes Büro dazu dienen sollen, Reisezeit sinnvoll zu nutzen, müssen wir dieses Problem lösen.“
Der genaue Auslöser für Reisekrankheit konnte bisher aber noch immer nicht endgültig geklärt werden. Eine Vernutung ist, dass die Ursache in einem sensorischen Konflikt liegt. Das heißt, die Bewegung und das, was wir aufgrund dieser Bewegung erwarten stimmen mit dem, was wir sehen, nicht überein. Also sollte es doch helfen, wenn die Fahrzeuginsassen so genaue Informationen wie möglich über die bevorstehende Bewegung bekommen, wie Beschleunigung, Kurven, Abbremsen und so weiter.
Ernüchternde Studienergebnisse
In der Vergangenheit zeigten einige Studien bereits, dass selbst simple Blinkzeichen vor einer Kurve bereits dazu beitragen können, das Risiko für Reiseübelkeit etwas zu mindern. Würde es also ausreichen, den Fahrgästen über ein Display optische Informationen zu übermitteln, um das Problem zu lösen? Wissenschaftler um Prof. Bülthoff haben diese Möglichkeit nun untersucht.
Dazu baten die Forscher Freiwillige, in einem Fahrsimulator Platz zu nehmen. Dann wurden die Teilnehmer mittels Virtual-Reality-Brillen in ein virtuelles Fahrzeug versetzt, in dem sie optische Simulationen von einer Fahrstrecke eingespielt bekamen. In einer Version des Experiments bekamen sie zusätzlich Wolken zu sehen und Lichtpunkte, die sich an den Seiten und am Boden des Fahrzeugs bewegten. Diese optischen Einspielungen sollten dazu dienen, zusätzliche, optische Informationen über Beschleunigen, Abbremsen und Kurven zu vermitteln.
Das Ergebnis sei jedoch ernüchternd gewesen, sagen die Wissenschaftler: „Wir beobachteten in unseren Simulationen keine Linderung der Reisekrankheit“, sagt Ksander de Winkel, Erstautor der Studie, der jetzt an der Universität Delft forscht. „Jedenfalls gab es keinen positiven Effekt, der über das hinausging, was sich bereits dadurch erreichen lässt, dass man aus dem Fenster schaut.“
Akustische Signale und Sicht nach draußen
De Winkel zieht daraus zwei Schlüsse: Entweder man brauche zusätzliche sensorische Informationen zur Fahrtstrecke, die auch andere Sinne mit einbeziehen, also etwa akustische Signale oder veränderte Vibration. „Oder wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die bisherigen Annahmen zum Ursprung der Reisekrankheit unvollständig sind, und der Übelkeit andere Ursachen zugrunde liegen.“
Außerdem müsse man es schaffen, dass sich autonome Fahrzeuge im Straßenverkehr möglichst ruhig bewegen, sagt Bülthoff. „Politiker arbeiten häufig im fahrenden Auto. Sie haben in der Regel aber auch außerordentlich gut geschulte Chauffeure, mit einem höchst vorausschauenden und dadurch sehr ruhigen Fahrstil.“ Zusätzlich müsse man bei der Entwicklung autonomer Fahrzeuge immer auch für ausreichende Sicht nach draußen sorgen. Insbesondere in Fahrtrichtung. „Und wenn es dann statt über die Autobahn auf eine kurvenreiche Strecke geht, werden die Insassen auch in Zukunft wahrscheinlich nicht drum herumkommen, ihre Computer und Akten zuzuklappen und nach vorne aus dem Fahrzeug auf die Strecke zu schauen.“
Titelbild: Blick durch die VR-Brille, © Ksander de Winkel, Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik