© Jonne Renvall & Erkka Frankberg
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Scherben bringen ja bekanntlich Glück, in erster Linie aber wohl für den Glaser, der neue Fensterscheiben einsetzt, den Smarthphone-Doktor, der ein gesplittertes Display ersetzt, und für die Hersteller von allem, was aus Glas ist. Das muss aber eigentlich nicht sein, denn Glas kann sich auch verformen, ohne zu zerbrechen. Es kommt nur auf die Zutaten an. Ein internationales Forscherteam aus Finnland, Frankreich, Italien, Österreich, Norwegen und den USA hat nun genau solches Glas entwickelt, das sich bei Raumtemperatur verformen kann, ohne zu brechen.

„Herkömmliches Glas ist spröde und zerbricht leicht unter Druck. Wir haben eine Möglichkeit gefunden, Glas herzustellen, das ein duktiles Verhalten zeigt. Mit anderen Worten, unser Glas ist widerstandsfähiger als herkömmliches Glas”, sagt Marie Curie Fellow Dr. Erkka Frankberg von der Universität Tampere, der das Forschungskonsortium leitete. Anstatt des herkömmlichen Siliziumoxid haben Frankberg und seine Kollegen Aluminiumoxid zur Herstellung des neuartigen Glases verwendet, wodurch dieses Glas auch metallähnliche Eigenschaften aufweist. „Von Siliziumoxid war bereits bekannt, dass es spröde ist. Wir suchten nach Oxiden, die sich anders verhalten könnten“, erklärt der Wissenschaftler. „Es gab einige Studien über glasiges Aluminiumoxid, die auf mehr Plastizität im Vergleich zu glasigem Siliziumoxid hindeuten, und wir nutzten die Gelegenheit, es zu untersuchen.“

Zuerst mussten die Wissenschaftler jedoch die Hürde überwinden, Aluminiumoxid in eine glasartige Substanz umzuwandeln. Dazu nutzten sie eine anspruchsvolle Technik namens gepulste Laserabscheidung. Laut Frankberg können die traditionellen Verfahren der Glasherstellung nicht auf Aluminiumoxid angewendet werden, da es sich leicht in die kristalline Form umwandelt. Die Lösung bestehe darin, das Material extrem schnell von einer hohen Temperatur abzukühlen, um eine Kristallisation zu verhindern.

© Erkka Frankberg

Ausmaß der Plastizität war eine Überraschung

Durch dieses Verfahren entstand eine amorphe Struktur aus Aluminium und Sauerstoffatomen, die ein neues, metallisches Glas bildete, das sich in verschiedenen Testreihen, auch bei punktuellen Belsatunfen und bei Raumtemperatur als biegsam und dehnbar erwies. „Das Ausmaß der Plastizität war für uns immer noch eine Überraschung“, gibt Frankberg zu.

Für ihre Tests bereiteten die Forscher dünne Schichten ihres Glases vor und setzten sie mechanischen Belastung aus, denn auch, wenn das Glas aufgrund des Aluminiumoxids metallähnliche Eigenschaften aufweist, ist es aber immer noch Glas. „Wir haben Proben unseres Materials gedehnt und gestaucht. Durch kombinierte Druck- und Scherversuche konnten wir zeigen, dass sich das Material auch auf eine Querkraft einstellen kann”, so Frankberg.

Herkömmliches Flachglas besteht in erster Linie aus Siliziumoxid und reißt leicht, da sich die Atome im Glas unter Spannung nicht bewegen können. Wenn das Glas zu stark gebogen oder gedehnt wird, bricht es. In dem neuartigen Glas könnten sich die Atome von einem Ort zum anderen bewegen, bevor das Glas die für den Bruch erforderliche Spannung erreiche. Während bei herkömmlichem Glas die Bruchspannung erreicht werde, bevor sich die Atome zu bewegen beginnen, weshalb das Glas leicht zerbreche, erklärt der Forscher.

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Ist dieses Glas also tatsächlich völlig unzerbrechlich oder erreicht auch dieses Material irgendwann den Punkt, an dem es bricht? „Ja und nein“, sagt Frankberg. „In einem spröden Material baut sich die Spannung stetig auf, bis es bricht. Wenn sich die Atome jedoch zu bewegen beginnen, bevor die Bruchspannung erreicht ist, steigt die Spannung nicht mehr an, sondern pendelt sich zu einer Fließspannung ein und erzeugt ein kontinuierliches Phänomen.“ Das heißt, bei Fließspannung hätten die Atome genügend mechanische Energie, um sich zu bewegen. Sie benötigten keine Energie mehr und deshalb könnte auch der Stress nicht zunehmen, sondern würde sich zu einem relativ konstanten Stress einpendeln.

© Jonne Renvall & Erkka Frankberg

Neue Anwendungen für Glas

Bisher hat Glas aufgrund seiner Zerbrechlichkeit nur begrenzte Einsatzmöglichkeiten, die aktuelle Forschung kann nach Aussagen der Wissenschaftler aber dazu beitragen, neue Anwendungsgebiete zu finden. „Vielleicht kann man sein Handy auf dem Boden zerschmettern, ohne den Bildschirm zu beschädigen. Unsere aktuellen Smartphone-Bildschirme sind im Grunde genommen normale Fenstergläser mit erhöhter Elastizität und Festigkeit. Aber sie bestehen letztlich doch aus Glas, das kein plastisches Verhalten zeigt”, betont Frankberg.

Diese neue Art Glas ist viel stärker als Stahl. Da Glas zudem viel leichter ist als Stahl, könne das neue Material laut Frankberg beispielsweise im Maschinen- und Anlagenbau eingesetzt werden oder auch in der Elektronik, in Systemen zur Erzeugung erneuerbarer Energien, für Anwendungen in der Raumfahrt und in Batterietechnologien, oder auch als Sicherheitsglas in Fahrzeugen. „In Zukunft ja, wenn wir in der Lage sind, ausreichend fehlerfreies Glas in ausreichender Menge herzustellen. Es ist schwierig, alle möglichen Anwendungen vorherzusagen, da Glas bisher nicht dafür bekannt war, sich so zu verhalten.“

Bedenken, dass das neue Glas aufgrund seines Aluminiumoxidgehalts gesundheitsschädlich sein könnte, zerstreut Frankberg. „Nach meinem besten Wissen gibt es keine Ergebnisse, die auf eine Karzerogenität von Aluminiumoxid hinweisen“, sagt er. „Aluminiumoxid ist eine Verbindung von Aluminium und Sauerstoff mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften gegenüber metallischem Aluminium. Aluminiumoxid ist überall in der Erdkruste und um uns herum vorhanden, von der Haushaltskeramik bis hin zu Materialien für den Bau.“

Fehlerfreies Glas ist für diese neue Art Glas eine Grundvoraussetzung für die Verformbarkeit, denn Unregelmäßigkeiten wie Risse, Blasen oder Verunreinigungen können zu Brüchen führen. Eine weitere Herausforderung für die Forscher. „Sowohl Aluminium als auch Sauerstoff sind auf der Erde reichlich vorhanden, aber wir benötigen einen unkonventionellen Herstellungsprozess, um die gewünschten Eigenschaften zu erreichen“, so Frankberg.

© Erkka Frankberg

Jahrzehnte bis zur Massenproduktion

Bis eine Produktion auf industriellen Größenverhältnissen stattfinden wird, werden daher wohl noch Jahrzehnte vergehen, sagt er, denn Forschung brauche Zeit. „Typisch für neue Werkstofftechnologien ist, dass die Skalierung der Fertigung sehr lange dauert. Es wird höchstwahrscheinlich zwei bis drei Jahrzehnte dauern, aber natürlich kann es beschleunigt werden, wenn es zu Durchbrüchen in der Fertigungstechnik kommt.“ Wenn ein Material aber wirklich für die Menschheit nützlich sei, werde es am Ende Tausende von Jahren verwendet werden – wie Glas, betont er.

Das Forschungsprojekt wurde im Rahmen des Forschungsprogramms Horizont 2020 von Finnland, Frankreich und Italien sowie von der Europäischen Union international gefördert. Die Forschung befindet sich jedoch noch in einem frühen Stadium. Die Ergebnisse dieser ersten Studie wurden im renommierten Science Magazine veröffentlicht.