Ist eine Nervenbahn, zum Beispiel nach einem Unfall, einmal durchtrennt, gibt es oft keine Heilung. Einzig eine Operation kann den Schaden mitunter reparieren. Wenn überhaupt. Dazu werden bei einigen Operationen Nervenstränge an einer anderen Körperstelle entnommen und an der durchtrennten Stelle eingefügt. Dadurch werden die Nervenenden verbunden und das Körperteil kann zumindest teilweise wieder bewegt werden. Ist das nicht möglich, bleiben die Gliedmaße oder ganze Körperpartien taub und steif. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Polymerforschung haben nun Materialien entwickelt, die verletzte Nerven zum Wachstum anregen. Erste Tests an Mäusen hätten auch bereits gezeigt, dass sich Nervenstränge auf diese Weise regenerieren können.
Nerven können unter Umständen zwar eine durchtrennte Stelle selbst überbrücken, aber dieser Prozess dauert. Außerdem brauchen die verletzten Nervenfasern dazu ein intaktes Gerüst aus Proteinen, wie es gesunde Nerven umgibt. Dieses Gerüst wird bei Verletzungen jedoch oft ebenfalls beschädigt. Diese sogenannte extrazelluläre Matrix bilde den Haftgrund für die Nervenbahnen, erklären die Forscher. Ähnlich wie Tomatenpflanzen ein Rankgitter benötigen, bräuchten Nervenzellen diese Matrix, um daran entlangzuwachsen. „Am Max-Planck-Institut für Polymerforschung haben wir daher ein Material aus körpereigenen Bausteinen entwickelt, mit dem sich diese Matrix ersetzen lässt“, erklären die beiden Forscher Christopher V. Synatschke und Tanja Weil. „Und wie sich gezeigt hat, ermöglicht es das künstliche Gerüst verletzten Nerven, sich zu regenerieren.“
Baukastensystem
Die Bausteine der natürlichen Matrix sind spezielle Proteine, d.h. lange Molekülketten, die ähnlich einem Wollknäuel geformt sind. Diese kleinen Knäuel bilden dann in der Masse lange Proteinschnüre, die als Geflecht wiederum die extrazelluläre Matrix bilden, an der die Nervenzellen entlang ranken können. Die Prozesse, die im Körper stattfinden, sind allerdings sehr komplex und können daher nicht im Reagenzglas nachgeahmt werden.
„Daher gehen wir in unserer Forschung einen etwas anderen Weg: Wir verwenden zwar die gleichen Grundmaterialien, aus denen auch die extrazelluläre Matrix der Nervenfasern aufgebaut ist, setzen diese jedoch in einfacherer Form zusammen“, beschreiben die Wissenschaftler ihre Studie. „Hierbei nutzen wir kurze Molekülketten, sogenannte Peptide, die wie Proteine aus Aminosäure-Bausteinen bestehen. Diese Peptide stellen wir chemisch gezielt so her, dass sich die Position jedes Bausteins genau festlegen lässt.“
Im übertragenen Sinn würden sie so die Synthese an den Molekülen Noppen und dazu passende Löcher erzeugen. Ähnlich wie bei Legosteinen: „Zwei so synthetisierte Peptid-Moleküle lagern sich am ehesten so aneinander an, dass die Noppen und Löcher aufeinandertreffen. Nur dann entsteht eine stabile Struktur. Auf diesem Weg stellen wir lange Fasern her, die in ihrer mikroskopischen Struktur zwar anders aufgebaut sind als die Proteine der extrazellulären Matrix der Nervenbahnen. In ihren Maßen und ihrer chemischen Zusammensetzung ähneln sie den natürlichen Proteinen aber sehr.“
Erfolgreicher Test mit Mäusen
Um herauszufinden, wie sich Nervenzellen verhalten, wenn sie auf dieser künstlichen extrazellulären Matrix wachsen sollen und, wie sich diese Wachstumseigenschaften mit chemisch variierenden Peptiden verändern, mussten die Forscher einen Schritt weitergehen. Gemeinsam mit ihrem Kooperationspartner Bernd Knöll, Professor am Institut für Physiologische Chemie der Universität Ulm, haben sie viele verschiedene Peptidstrukturen hergestellt, auf Glasträger aufgebracht und dort Nervenzellen kultiviert. Dabei stellte sich heraus, dass die Nervenzellen auf manchen Faserstrukturen beinahe überhaupt nicht wuchsen. „Bei anderen bildeten sich dagegen nach kurzer Zeit sogenannte Axone – dünne Fortsätze, welche die Verbindung zu anderen Nervenzellen schaffen.“
Die Faserstruktur, auf der die Nervenzellen am besten wuchsen, wurde dann an der Universität Ulm im Tierversuch getestet. Dazu wurde einer Maus chirurgisch einseitig ein Gesichtsnerv durchtrennt, der die Bewegung der Schnurrhaare steuert. „An der so erzeugten Nervenlücke wurden die Peptide, nachdem sie die Faserstruktur ausgebildet hatten, injiziert. Nach 18 Tagen konnte die Maus ihre Schnurrhaare bereits wieder bewegen – die Nervenbahnen waren offenbar zusammengewachsen.“
Da die Peptide der künstlichen Fasern den natürlichen Proteinen der extrazellulären Matrix sehr ähneln, hoffen die Forscher jetzt, „dass das Material für die Zeit der Heilung zwar an Ort und Stelle verbleibt, der Körper es danach aber abbauen kann.“ Bisher konnten die Wissenschaftler beobachten, dass die Menge des Materials an der Injektionsstelle langsam abnimmt. „Ob das jedoch auf den biologischen Abbau oder aber die Verteilung im Körper zurückzuführen ist, bedarf weiterer Untersuchungen.“
Zuversicht bei den Forschern
Bis diese neue Methode beim Menschen angewendet werden kann, wird noch einige Zeit vergehen. Dazu seien weitere Optimierungen nötig, da die Nervenzellen auf dem Material noch nicht so gut wachsen wie in der natürlichen Matrix, „und zudem recht ungeordnet in alle Richtungen“, geben die Forscher zu. „In einem nächsten Schritt wollen wir daher in die künstliche Matrix noch Wachstumsfaktoren einbetten, um die Heilung weiter zu beschleunigen. Weiterhin möchten wir die injizierten Faserstrukturen ausrichten, damit die Nervenzellen in eine Richtung wachsen.“
Die Wissenschaftler gehen aber davon aus, dass ihre künstliche extrazelluläre Matrix künftig zumindest bei der Heilung kleiner Verletzungen an Nervenbahnen helfen könnte und somit Operationen vermieden werden könnten. „Und vielleicht lassen sich nach weiterer Forschung so einmal nicht nur Verletzungen am peripheren Nervensystem, sondern auch am zentralen Nervensystem behandeln“, hoffen sie.