Jeder, der sich längere Zeit nicht sportlich betätigt hat oder, noch schlimmer, sich nur wenig bewegt hat, weiß: Die Muskeln gehen drastisch zurück und die Kondition leidet erheblich. Muskeln müssen trainiert werden, denn der menschliche Körper ist auf Effizienz getrimmt. Seit den Ur-Menschen hing die Nahrungsversorgung über viele Evolutionsstufen davon ab und die Konsequenzen spüren wir noch heute. Alle Funktionen und Ressourcen, die mittel- bis längerfristig wenig oder gar nicht genutzt werden, fährt der Körper spürbar zurück.
Bei Astronauten, die längere Zeit in der Schwerelosigkeit verbringen, ist dieser Effekt noch weit ausgeprägter als zum Beispiel bei Hobbysportlern nach einer mehrwöchigen Trainingspause. Ohne Schwerkraft bilden sich Muskeln und Knochen stark zurück. Körperflüssigkeiten verschieben sich in die obere Körperhälfte, das Herz-Kreislauf-System wird weniger beansprucht und verliert an Leistungsfähigkeit – und das alles in einem Bruchteil der Zeit, die es auf der Erde dauern würde.
Gemeinsam mit der europäischen Weltraumorganisation ESA und der amerikanischen Weltraumbehörde NASA startet das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) deshalb am 25. März 2019 mit AGBRESA (Artificial Gravity Bed Rest Study) die erste gemeinsame Langzeit-Bettruhestudie. Dabei wird, im Hinblick auf künftige lange Mars- oder Mondmissionen, erstmals der Einsatz von künstlicher Schwerkraft als mögliche Maßnahme gegen die negativen Effekte der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Organismus untersucht.
60 Tage liegen
Damit Astronauten für lange Zeit im Weltraum oder auf dem Mond und Mars leben können, müssen effektive Gegenmaßnahmen gegen Knochen- und Muskelschwund entwickelt werden. Daher werden zwei Drittel der insgesamt 24 Probanden während der dreimonatigen Studie täglich im Liegen auf der DLR-Kurzarm-Zentrifuge in der luft- und raumfahrtmedizinischen Forschungsanlage :envihab am DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln gedreht.
„Die astronautische Raumfahrt ist auch in Zukunft wichtig, um Experimente in der Schwerelosigkeit durchzuführen – dafür müssen wir sie für die Astronauten aber auch so sicher wie möglich machen”, sagt Prof. Hansjörg Dittus, DLR-Vorstand für Raumfahrtforschung und -technologie. „Diese Bettruhestudie von DLR, NASA und ESA bietet Raumfahrtforschern aus ganz Europa und den USA die Möglichkeit, zusammenzuarbeiten und gemeinsam ein Maximum an humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zu gewinnen.”
Bei der Langzeit-Bettruhestudie werden die jeweils zwölf weiblichen und männlichen Probanden 60 Tage in den Betten des :envihab verbringen. In dieser Zeit finden sämtliche Aktivitäten wie Experimente, Essen oder Freizeitgestaltung im Liegen statt. Zusätzlich sind die Studienteilnehmer in ihren Bewegungen eingeschränkt, sodass Muskeln, Sehnen und Skelett weniger beansprucht werden. Die Betten sind außerdem zum Kopf hin um sechs Grad nach unten geneigt, was dazu führt, dass die Körperflüssigkeiten – wie bei den Astronauten in Schwerelosigkeit – verlagert werden. Inklusive Eingewöhnungs- und Erholungsphase dauert der Versuch 89 Tage.
„Beide Effekte sind vergleichbar mit denen von Astronauten im Weltraum“, erklärt Dr. Leticia Vega, stellvertretende Chefwissenschaftlerin für internationale Kooperationen für das Human Research Programme der NASA. „Zwar werden die Auswirkungen der Schwerelosigkeit primär auf der Internationalen Raumstation erforscht. Je nach Forschungsfrage hat es allerdings Vorteile, einen oder mehrere Aspekte zunächst auf der Erde unter kontrollierten Bedingungen zu simulieren. Später werden die Ergebnisse auf der ISS validiert.”
„For space and Earth”
Die humanphysiologische Forschung in Schwerelosigkeit oder unter simulierten Bedingungen sei „nicht nur wichtig für Astronauten zum Erhalt der Gesundheit und Leistungsfähigkeit im All, sondern auch für den Menschen auf der Erde“, heißt es beim DLR. „Raumfahrtmedizin bedeutet deshalb auch Gesundheitsforschung für die Erde in allen Bereichen der Prävention, Diagnostik und Therapie.“
Dr. Dr. Jennifer Ngo-Anh, Wissenschaftskoordinatorin bei der ESA betont, dass die ESA in internationaler Kooperation sichere und nachhaltige Langzeitmissionen in die Tiefen des Weltalls plane. „Um dies zu ermöglichen, müssen verschiedene gesundheits- und damit missionsgefährdende Risiken minimiert werden. Mit AGBRESA widmen wir uns dem Muskelschwund durch die Schwerelosigkeit. Andere Belastungen wie Weltraumstrahlung, Isolation, räumliche und andere Einschränkungen gehören aber genauso auf unsere Forschungsagenda.”
Laut Prof. Jens Jordan, dem Leiter des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin, bietet das :envihab für diese Studie, für die das DLR die Wissenschaftler, Räumlichkeiten, Ärzte sowie das Betreuungs- und Ernährungsteam zur Verfügung stellt, die besten Voraussetzungen. „Wir können hier zwölf Probanden gleichzeitig unterbringen, versorgen, untersuchen und eine große Anzahl an Experimenten durchführen“, sagt er. „Neben der Probandenstation befindet sich in direkter Nachbarschaft ein MRT und die DLR-Kurzarm-Humanzentrifuge. Weltweit erstmalig bei einer Langzeit-Bettruhestudie setzen wir mit Fahrten auf einer Zentrifuge künstlich erzeugte Schwerkraft ein, um zu testen, inwieweit sie sich als Präventions- und Gegenmaßnahme zu den physiologischen Veränderungen unter Schwerelosigkeit eignet.”
Zusätzlich würden auch eine Reihe anderer Experimente durchgeführt, sagt man beim DLR. „Unter anderem zu Herz-Kreislauf-Funktion, Gleichgewicht, Muskelkraft sowie kognitive Tests und auch invasive Untersuchungen wie Gewebeentnahme aus den Muskeln, Mikrodialyse, Messung der elektrischen Muskelaktivität und regelmäßige Blutabnahmen.“
Probanden gesucht
Mit Bettruhestudien wird in der weltraummedizinischen Forschung auf der Erde die Wirkung von Schwerelosigkeit auf den Körper zu simuliert. Die letzte großangelegte Bettruhestudie der Kölner Raumfahrtmediziner des DLR, die VaPER-Studie, fand 2017 statt. Die AGBRESA-Studie ist in zwei Teile aufgeteilt: Die ersten Probanden ziehen am 25. März 2019 ein, für die zweite Phase, die im kommenden Herbst starten soll, suchen die Forscher noch weitere Probanden, insbesondere Teilnehmerinnen. Das Ziel ist es, Erkenntnisse für alle künftigen Raumfahrer zu gewinnen – Astronautinnen und Astronauten.
„Das Raumfahrtmanagement des DLR fördert mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie die Experimente der deutschen Wissenschaftler, die von der ESA zur Teilnahme an der Studie ausgewählt wurden. Die starke Beteiligung Deutschlands am ISS-Nutzungsprogramm bildet eine exzellente Voraussetzung für deutsche Hochschulinstitute und Forschungseinrichtungen, einzigartige Möglichkeiten zu nutzen – die Resultate sind sowohl für die weitere Forschung im All als auch auf der Erde relevant”, sagt Dr. Thomas Galinski, zuständiger Projektdirektor im DLR Raumfahrtmanagement.
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