Die Gletscher schmelzen in rapidem Tempo und das hat Auswirkungen auf den Planeten. Denn in Gletschereis sind große Trinkwasserressourcen gespeichert. Verschwinden die Gletscher, dann ist der Wasserhaushalt gefährdet. Gleichzeitig kommt es zum globalen Anstieg des Meeresspiegels und Inseln und Küstenregionen könnten untergehen. Gletschern – und nicht zuletzt deren Schneedecke – kommt also eine Schlüsselrolle im Klimawandel zu.
Naturwissenschaftliche Forscherteams der Universität Innsbruck (AUT), der Universität Erlangen-Nürnberg (GER) und der Universität Saskatchewan (Kanada) wollen die große Unbekannte jetzt im gemeinsamen Projekt Schneedeckendynamik und Massenbilanz auf Gebirgsgletschern erforschen und eine fortgeschrittene Gletschermodellierung entwickeln.
Forschungsaufgabe ist es, die Flüsse an Masse und Energie, die den Zustand der Gletscher bestimmen, in hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung zu analysieren. Um diese Aufgabe zu erfüllen, versuchen sie Messungen und Modelle von Gletscher und Klima so präzise zu verbinden, dass die Ungenauigkeit in den Hochrechnungen drastisch reduziert werden kann. Wenn das gelingt, dann kann die Wechselwirkung zwischen der Schneedecke und Atmosphäre in den unterschiedlichsten Gebirgsklimata der Erde in hoher Auflösung untersucht werden.
Entwicklung feinerer Messinstrumente
Klimaforschende haben schon ein fortgeschrittenes Verständnis von Gletschermodellen und wissen viel über die dominierenden Prozesse. Die ständigen Veränderungen von Gletschern zu beobachten, bedeutet aber nach wie vor eine große logistische Herausforderung, weil Gletscher – und vor allem Gebirgsgletscher oft (noch) sehr groß und schwer zugänglich sind.
Deshalb sieht man von einem individuellen Monitoring weitgehend ab und konzentriert sich auf einzelne Gletscher auf denen man nur jährlich erzielte Massenbilanzen misst. Diese werden dann in grober Annäherung auf unbeobachtete Gletscher übertragen und – im Fall von größeren Gebieten – hochgerechnet. Das Problem daran ist eine mangelnde Präzision. Denn die Messinstrumente zum Verfeinern und Kalibrieren der Modelle fehlen noch.
Die Dynamik der Schneedecke
Bisher ist die Schneedecke erst in Form der Niederschlagshöhe messbar. Die große Unbekannte ist die Dynamik der Schneedecke, die nicht nur von Niederschlag geprägt ist, sondern auch von windgetriebener Umverteilung und Verdichtung sowie Schmelze. Die Dauer der Schneedecke ist maßgeblich für das Wohlergehen des Gletschers. Denn sie hat ein höheres Reflexionsvermögen als das darunterliegende Eis, das durch die Schmelze im Frühjahr unweigerlich freigelegt wird.
Die Schneedecke und der Faktor Wind
„Die Modellierung von Gletscher und Massenbilanz gibt es, aber zu deren Berechnung braucht es Atmosphäredaten – und je präziser das Modell sein soll, umso mehr braucht es auch noch andere Informationen,“ erklärt Dr. Brigitta Goger vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Universität Innsbruck. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über hochauflösende Wettervorhersagemodelle. Im aktuellen Projekt forscht sie gemeinsam mit dem Glaziologen Georg Kaser und weiteren Kollegen und Kolleginnen an einer optimierten Erfassung von atmosphärischen Daten. Denn, so die Forscherin: „Bisher konnten wir den Schneedrift im Atmosphärenmodell nicht berücksichtigen. In Zukunft soll das möglich sein, weil wir die Schneedecke nicht mehr nur über den Niederschlag, sondern auch über den Wind beobachten können.“
Gletschermassenbilanzmessungen
Die Forschenden an der Universität Innsbruck haben den Vorteil eines einmaligen Forschungsfelds: Den Hintereisferner. An der Grenze zwischen Tirol und Südtirol gelegen, zählt er zu den am besten erforschten Gletschern Österreichs – und generell der Alpen. 2016 wurde hier eine weltweit einzigartige Messinfrastruktur errichtet – ein Laserscanner, der die Gletscheroberfläche täglich auf Knopfdruck aus der Ferne abtasten kann. So werden umfangreiche Messdaten verfügbar, aus denen Geländemodelle abgeleitet und Höhen-, Volumen- und Masseveränderungen errechnet werden können. Die Messungen werden vom Institut für Meteorologie und Geophysik an der Universität Innsbruck durchgeführt, das eine der längsten Zeitreihen in Massebilanzmessungen weltweit hat. Der Laserscanner ergänzt die traditionelle Massenbilanzerstellung mittels Pegelstangen.
Verbindung mit Atmosphärenmodell
Die Messungen am Hintereisferner sollen im Rahmen des Projekts in eine fortgeschrittene Modellierung der Gletscherphysik eingehen. Das heißt, die sich täglich ändernden Daten des Gletschermassenbilanzmodells sollen mit einem Atmosphärenmodell kombiniert werden. Letzteres ist ein ausgeklügeltes Wettervorhersagemodell, das den aktuellen Zustand der Atmosphäre in Parametern wie Windgeschwindigkeit, Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit sowie Niederschlagsmengen rechnet. Kombiniert man die Modelle, dann kann die Massenbilanz des Gletschers unter Einfluss der komplexen Luftbewegungen, denen diese ausgesetzt ist, simuliert werden.
Verursacht werden die komplexen Luftbewegungen im Gebirge durch das Windfeld – eine 3D-Verteilung von Windgeschwindigkeit. Dieses erschwert den Wärmeaustausch zwischen der Oberfläche des Gletschers und der darüber liegenden Atmosphäre. Zudem sind die Eismassen gewöhnlich von einer kalten Luftschicht umgeben, die warmen oberflächennahen Strömungen entgegenwirkt und ein schnelleres Abschmelzen bremst.
Schneedrift-Modul
Zunächst musste jedoch die Genauigkeit und Fehleranfälligkeit des Messsystems auf dem Hintereisferner überprüft werden. Da die Qualität der Gletschermodellierung von Aspekten wie Messdistanz, Wetter und Wind abhängig ist. Die Evaluierung erfolgte durch Projektmitarbeiterin Annelies Voordendag vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften, die herausfand, dass die Messgenauigkeit des Laserscanners bei einer maximalen Abweichung von etwa zehn Zentimetern liegt. Das reicht, um auch die tägliche Schneedrift aus den Geländemodellen ableiten zu können.
Kalte Luftschicht für das Mikroklima
Hier könnten die Modellierungen etwa Aufschluss darüber geben, wie viel ein Gletscher an Masse verlieren kann, ohne die kalte Luftschicht zu verlieren, die das Mikroklima reguliert. Denn „je kleiner die Gebirgsgletscher werden, desto wichtiger werden diese sehr kleinräumigen Phänomene für ihre Modellierung“, betont Goger. Die kalte Luftschicht, die über dem Gletschereis entsteht, ist hauptsächlich bei Sonnenschein und Windstille gegeben. Sobald Wind einsetzt, kann die kalte Luftschicht weggeblasen werden – zumindest bei kleinen Gletschern. Denn je größer der Gletscher, desto eher bleibt die kalte Luftschicht erhalten.
3D-Verteilung von Windgeschwindigkeit
Die Auflösung des Atmosphärenmodells basiert auf einem Gitter, das den Berechnungen des Computers zugrunde liegt. In bestehenden Auflösungen betragen die Gitterabstände ein bis zwei Kilometer. Im neuartigen Atmosphärenmodell des Forschungskonsortiums liegt die höchste Auflösung bei 48 Metern. Das heißt, alle 48 Meter werden atmosphärische Daten erfasst. Auf diese Weise erhalten die Forscher unter anderem das Windfeld – also die 3D-Verteilung von Windgeschwindigkeit – über die gesamte Gletscheroberfläche. Für ein engmaschiges Gitter dieser Art brauche es gute und hochaufgelöste Daten, so Goger.
Eine erste auf den Messdaten aufbauende Simulation der Schneedrift soll eine Fallstudie im kommenden Winter zeigen. Die Rechensätze könnten aber auch von Forschenden in anderen Weltregionen aufgegriffen werden – selbst solchen, die weit größere Eismassen aufweisen, wie jene in kanadischen Untersuchungsgebieten.
Das Projekt Projekt Schneedeckendynamik und Massenbilanz auf Gebirgsgletschern wurde vom Österreichischen Fonds zu Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) kofinanziert.