Ein Startup in Wien arbeitet an einer personalisierten Technologie zur Behandlung von chronischen Schmerzen und Entzündungen. Die elektrische Stimulation des aurikulären Vagusnervs bietet eine einfache und nachhaltige Alternative zu belastenden Medikamenten und Eingriffen.
In Europa, USA und Japan gibt es einhundertdreißig Millionen Menschen mit chronischen Rückenschmerzen. Konventionell werden diese mit suchtgefährdenden Opioiden oder invasiver Rückenmarkstimulation behandelt. Jozsef Constantin Széles, Facharzt für Allgemeine Chirurgie und Viszeralchirurgie in Wien hat eine Alternative entwickelt: eine minimal invasive Technologie. Es ist eine Art Wearable, das hinter dem Ohr fixiert wird und mit winzigen Nadeln im äußeren Ohr verbunden ist. Die Nadeln dienen der Übertragung elektrischer Pulse und stimulieren die offenen Nervenenden des aurikulären Nervus Vagus.
Vielen Erkrankungen liegt eine (chronische) Störung aktivierender und regenerierender Reize im autonomen Nervensystem zugrunde. Kommt es hier zu einer Fehlregulation, äußert sich das in verschiedensten Symptomen. Hier setzt die elektrische Stimulation des aurikulären Vagus Nerv an.
Die therapeutische Wirkung der elektrischen Stimulation basiert auf der Aktivierung hemmender Schmerzkontrollsysteme und der Freisetzung von Neurotransmittern wie Endorphinen.
Der Nervus Vagus
Der Vagusnerv ist einer der zwölf Hirnnerven im menschlichen Körper. Seine Aufgabe ist es, Informationen vom Gehirn an die Organe zu senden und dem Gehirn den aktuellen Zustand der Organe zu vermitteln. Dieses Feedback ist von großer Bedeutung für die Selbstregulierung des Körpers.
Das Versorgungsnetz des Vagusnerv erstreckt sich über Brust- und Bauchhöhle mit Speiseröhre, unteren Atemwegen, Herz, Aorta und dem gesamten Magen-Darm-Trakt. Darüber hinaus sendet der Vagusnerv sensorische Fasern an den äußeren Gehörgang und die Ohrmuschel, die in den Kern des Solitärtraktes im Gehirnstamm ragen.
Die Vagusnervenfasern in der Ohrmuschel können leicht lokalisiert werden. Dennoch muss das Gerät von einem Arzt appliziert werden. Die Nadeln durchdringen die Haut, was einem minimal-invasiven Eingriff gleichkommt.
Durch die rein sensorische Innervation der Ohrmuschel kann der direkte Einfluss auf die vom Schmerz betroffenen Organe reduziert werden – und Nebenwirkungen vermieden.
Physiologisches Feedback
Széles hat das Patent schon 1989 angemeldet. Die ersten Geräte erschienen 2003 unter dem Namen P-STIM und wurden auch in Amerika vertrieben. In Österreich ist AuriSTIM unter anderem an der Schmerzambulanz im Allgemeinen Krankenhaus Wien in Verwendung. Seit 2006 arbeitet Széles im Spinoff SzeleSTIM an der dritten Generation der Technologie. Mit im Team sind Kollegen von der TU Wien: Professor Eugenijus Kaniusas vom Institut für Biosensorik und Stefan Kampusch vom Institut für Electrodynamics, Microwave and Circuit Engineering. Die Forscher haben in langjährigen Experimenten beobachtet, wie Patienten auf die Elektrostimulation reagieren und so Daten zu Schmerzempfinden und den verschiedenen Behandlungsformen bei chronischen und akuten Schmerzen gesammelt.
Das Problem: Der Einsatz der elektrischen Stimulation ohne physiologisches Feedback kann zu Über- oder Unterstimulation führen. Bei Überstimulierung können Nervenenden ermüden. Bei Unterstimulierung kann der Therapieerfolg ausbleiben. Um Körperreaktionen wie Puls und Atemfrequenz einbeziehen zu können, müssen diese gemessen werden. Mit den Daten können die individuell wirkungsvollsten Stimulationsmuster ermittelt und die passenden Stimulationsabfolgen gefunden werden.
Forschungsziel ist es, das physiologische Feedback nicht durch am Körper getragene Sensoren zu erreichen, sondern ohne zusätzliche Sensoren – direkt am Ohr. Die Daten sollen über eine verbundene Smartphone App gesammelt werden, mit denen die Therapie individuell angepasst und gesteuert werden kann.
Therapeutische Effekte
Die nachhaltigen therapeutischen Effekte des Geräts wurden bereits 2004 in klinischen Studien nachgewiesen:
- Bei Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen und Zervikalsyndrom wurde Schmerzreduktion, gesteigertes Wohlbefinden, erhöhte Beweglichkeit und erhöhte Schlafqualität beobachtet.
- Positive Effekte wurden auch bei akuten Schmerzen von Patienten mit Tonsillektomie und laparaskopischer Nephrektomie nachgewiesen.
- Weiters konnte eine Linderung chronischer Schmerzen bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit erzielt werden.
Der Prototyp der App funktioniert. Im Mai 2018 gewann SzeleSTIM die Startup Challenge der Pioneers Konferenz. Bei erfolgreicher Finanzierung ist die Markteinführung 2020 über Krankenhäuser geplant. Derzeit handelt es sich noch um ein Wegwerfprodukt – aus hygienischen Gründen. Der Austausch muss in zwei-Wochen-Intervallen erfolgen. Um das Gerät möglichst vielen zugänglich zu machen, streben die Forscher eine Anerkennung durch die Krankenkassen an.
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