Trotz fortgeschrittener Technologie ist die Fortbewegung mit Knieprothese immer noch physisch und psychisch anstrengend für Betroffene. Die Abläufe sind mitunter noch nicht ideal – und Anwender und Anwenderinnen passen sich unbewusst an das Verhalten der Prothese an. Daraus können langfristig Folgeleiden entstehen – wie etwa Hüftleiden oder eine übermäßige Belastung des gesunden Beins. Eine ideale Knieprothese sollte sich an das Verhalten der Anwendenden anpassen, sagt Dr. Michael Tschiedel, der das Thema in seiner Dissertation an der TU Wien unter Anleitung von Professor Eugenijus Kaniusas erforschte. Die Forschung wurde industrienah in Kooperation mit der Otto Bock Healthcare Products GmbH durchgeführt.
Komplexes System
Unser natürliches Knie gibt uns Halt, wenn wir stehen und Flexibilität, wenn wir gehen. Zugrunde liegt ein komplexes System, das aus Knorpeln, Muskeln und Weichteilen besteht. Dass wir diese Komplexität nicht wahrnehmen, liegt daran, dass wir unser Knie unbewusst und automatisch steuern. Knieprothesen erfordern indes eine komplexe Technologie. Denn, „sie ersetzen nicht nur die Struktur des Beines, sondern auch die biologische Funktion. Sollen sie Halt geben und Einbeugen vermeiden, dann müssen sie einen hochgedämpften Beugungswiderstand leisten. Sollen Sie im Gehen ein Durchschwingen ermöglichen, müssen sie eine lose Dämpfung aufweisen“, erklärt Tschiedel.
Stufenlose Regelung
State-of-the-art im high-end Bereich sind einachsige mikroprozessorgesteuerte Knieprothesen, die einem natürlichen Gehen schon sehr nahekommen. Möglich wird dies durch ein Zusammenspiel aus Mechanik, Elektronik und Firmware. Dabei sind es Sensoren, die in Echtzeit erfassen, ob die Person gerade gehen, stehenbleiben, sitzen oder aufstehen will. Die Sensordaten werden an die integrierte Hydraulikeinheit weitergegeben, die so den erforderlichen Regelwert wählen und stufenlos regeln kann. Ein Mechanismus, den Tschiedel vereinfacht mit einem Türscharnier vergleicht, das mit einer Dämpfung ausgestattet ist – und bewirkt, dass die Tür langsam zufällt.
Eine Fehleinschätzung der Situation könnte unangenehm sein. Denn wenn das Knie zum Beispiel während des Gehens plötzlich sperrt, könnte die Person im schlimmsten Fall stürzen. Sicherheit müsse in der Prothesentechnik also oberste Priorität haben, so der Forscher.
Erfassung physikalischer Größen
Ottobock hat vor 25 Jahren mit dem C-Leg einen Meilenstein in der Konstruktion von Prothesen erreicht. Seither nutzt das Unternehmen für die mikroprozessorgestützte Steuerung von Knieprothesen Sensordaten. Die integrierten Sensoren erfassen die auftretenden Kräfte, Winkelgeschwindigkeiten und Beschleunigungen sowie eine sechsachsige Raumlage-Einheit, welche die Lage und Rotationsgeschwindigkeit des Kniegelenksystems im Raum bestimmt. Dadurch weiß die Steuerung genau, wie sich die Prothese im Raum bewegt, wie sich Ober- und Unterschenkel zueinander verändern und leitet daraus die genaue Gangphase und Aktivität ab.
Bisher griff man bei der Beurteilung der Situation jedoch bloß auf physikalische Größen zurück, die direkt in der Prothese gemessen werden können. Die Umgebung wurde dabei nicht einbezogen, erklärt Tschiedel.
Integration von Umgebungsinformationen
Er wollte erstmals mit Umgebungsdaten arbeiten, um herauszufinden, ob die Bewegungsabläufe der Knieprothese dadurch noch natürlicher gestaltet werden können. Inspiriert war er von den Technologien der Automotive-Industrie, welche die Umgebung von selbstfahrenden Autos analysieren. Ähnliche Technologien untersuchte er auf deren Eignung für Beinprothesen. Insbesondere waren dies Ultraschall- und Kamerasensoren, die er einsetzte, um das Verhalten des anderen – gesunden – Beins zu erfassen. Seine Annahme war, dass Informationen zum Verhalten des gesunden Knies die Steuerung der Knieprothese verbessern.
„Im menschlichen Körper erfolgen Bewegungen in einem gekoppelten System. Wir nutzen diese Kopplung unbewusst, um unsere Bewegungen zu synchronisieren und das eine Bein in Abhängigkeit vom anderen Bein zu steuern. Eben diese natürliche Kopplung versuchten wir nachzubilden, um die Steuerung der Knieprothese zu verbessern“, erklärt Tschiedel.
Intuitiveres und müheloseres Gehen
Nach proof-of-concept und klinischer Studie steht fest, dass der Ansatz des jungen Forschers tatsächlich eine Verbesserung bewirkt. „Mittels Sensoren und einer ausgeklügelten Algorithmik, direkt integriert in die Prothese, weiß das Gelenk genau, wie sich das gesunde, gegenüberliegende Bein bewegt. Gehen wird dadurch intuitiver und ist physisch und psychisch weniger anstrengend,“ so Tschiedel.
Die neue Technologie macht die Knieprothese noch etwas alltagstauglicher und sicherer. Wobei Anwendende das System nicht willentlich über ein Gerät steuern müssen. Vielmehr reagiert die integrierte Steuerung automatisch auf deren Bewegungsverhalten. Dadurch müssen sich Nutzer nicht auf jeden Schritt konzentrieren.
Über Michael Tschiedel
Michael Tschiedel (28) absolvierte an der TU Wien das Bachelorstudium Elektrotechnik und Informationstechnik und das Masterstudium Biomedical Engineering. 2022 promovierte er sub auspiciis Praesidentis rei publicae in Technischen Wissenschaften. Für seine Forschung zur datengesteuerten Knieprothese erhielt er im Dezember 2022 vom Rektorat der TU Wien den Dr. Ernst Fehrer-Preis. Der Preis ist mit € 8000 dotiert und wird jährlich für besondere technische Forschungsleistungen mit praktischer Anwendbarkeit vergeben.
Foto oben: Michael Tschiedel mit der intelligenten Knieprothese (c) Akos Burg