Die Schnee- und Lawinenforschung hat große Fortschritte gemacht. Eine exakte Vorhersage der Lawinengefahr ist aber anhaltend problematisch – weil an der Bildung von Lawinen chaotische nichtlineare Vorgänge beteiligt sind.
Die großen Schneemengen, die am Alpen-Nordrand in den ersten Januartagen fielen, alarmierten die Lawinenexperten. Eine ähnliche Wetterkonstellation hatte 1954 zu dramatischen Lawinenabgängen in besiedeltem Gebiet geführt. „Der Unterschied zwischen dem Lawinenwinter 1954 und dem heurigen Winter liegt nicht so sehr in der Schneehöhe, sondern in der Weiterentwicklung der Schutzmaßnahmen“, erklärt Andrea Fischer vom Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Obwohl die besiedelte Fläche und die Mobilität gestiegen sind, kommt es heute zu weniger Schadensfällen, so die Gebirgsforscherin. Die Fortschritte basieren auf
- wesentlich besseren Wetterprognosen als noch in den 1950er Jahren;
- Beobachtungsdaten und Modellierungen, welche zum Verbau von vielen Lawinenstrichen führten;
Schwer kalkulierbares Risiko
Technologien wie Satellitenbilder und automatisierte Schneehöhen-Messungen sowie neue Theorien haben die Einschätzung des Lawinenrisikos definitiv verbessert. Allerdings können Prognosen nie mit vollkommener Sicherheit gestellt werden. Bei der Bildung von Lawinen sind chaotische nichtlineare Vorgänge beteiligt. Schwer vorhersehbar ist insbesondere die Frage, ob es zum Bruch der Schneedecke kommen wird und ob sich dieser Bruch fortpflanzen wird.
Handmessungen unumgänglich
Grundlegender Parameter in der Einschätzung des Lawinenrisikos sind die Daten der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Diese liefern Messungen und Prognosen zu Niederschlag, Temperaturen, Luftdruck und vor allem Windgeschwindigkeit in hoher Qualität. Ein weiterer relevanter Parameter ist die Schneehöhe, deren Erfassung seit den 1970-er Jahren, automatisiert ist. Allerdings sind die Handmessungen dadurch nicht gänzlich ersetzbar.
Variierendes Schneegewicht
Problematische Aspekte sind die veränderliche Dichte der Schneedecke und der Windeinfluss. Je nach Wassergehalt und Konsistenz wiegt ein Kubikmeter Schnee zwischen hundertfünzig und siebenhundert Kilogramm. Bei gleicher Schneehöhe kann das Gewicht des Schnees sehr unterschiedlich sein. Deshalb werden am Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung die Schneehöhen auf den Gletschern bei den alljährlichen Messungen im April händisch vorgenommen. Die Verteilung des Schnees über größere Flächen ist auch heute noch schwer messbar.
Fünfzig Prozent Fehlerquote
Die gängigen Messgeräte können Regenfälle gut abbilden, Schneeniederschlag lässt sich aber nur sehr ungenau aufzeichnen. „Erfahrungsgemäß fliegt der Schnee bei Wind und Minusgraden am Messzylinder vorbei. Schneeflocken, welche den Weg durch die Öffnung des Messzylinders finden, können gleich an den beheizten Messgeräten verdunsten anstelle als Niederschlag gemessen zu werden“, sagt Kay Helfricht vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung. Das führt unter anderem dazu, dass die Menge des Winter-Niederschlages im Hochgebirge und damit das in der Schneedecke gespeicherte Wasser bis zu fünfzig Prozent unterschätzt werden. Dies ist allerdings für den Wintertourismus, für Lawinenprognosen und Modelle des Schmelzwasser-Abflusses wichtig.
Präzise Laser-Sensorik
Helfricht will in seinem Langzeitprojekt pluSnow herkömmliche Messfehler bei Schneefall minimieren und setzt präzise Laser-Sensorik ein. Dabei werden
- zeitlich hoch aufgelöste Schneehöhen-Messungen mit Niederschlags-Daten in Zusammenhang gebracht;
- in die Messung von Neuschnee-Dichten meteorologische Messgrößen wie Wind und Temperatur einbezogen;
Über verbesserte Wettervorhersagen hinaus werden die Forschungs-Ergebnisse langfristig auch verdichtete Trendanalysen für Hochgebirgsregionen ermöglichen. Die Aufzeichnung des Gebirgsklimas und dessen Entwicklung soll auch zur präzisen Dokumentation der Klimaveränderung beitragen.
Klimawandel
In der Gebirgsforschung geht man von einem Zusammenhang zwischen Klimawandel und extremem Schneefall und Kälte aus. Fischer: „Beide Phänomene entstehen aus bestimmtem Wetterlagen, die sich stationär verhalten, also länger an einem Ort bleiben.“ Ein Mechanismus, der auch zu wochenlangen Hitzewellen im Sommer führt. Die Gletscher reagieren träge auf die Klimaveränderung und sind ein verlässlicher und deutlicher Indikator für die Langzeit-Klimaforschung. Im Alpenraum, wo es seit vierhundert Jahren Zeitreihen gibt, zeichnet sich dies besonders klar ab. In den vergangenen hundertsiebzig Jahren gingen die Gletscher weltweit um die Hälfte zurück, weiß Fischer. Auslösend sind die Temperaturen in Mai und September sowie die ganzjährigen Niederschläge.
Präzisere Hinweise auf extreme Schneefälle in der Vergangenheit erwartet sich Fischer vom Forschungsprojekt zu alpinen Eisbohrkernen, das sie selbst leitet. Das Projekt ist vom Wissenschaftsfond (FWF) gefördert und läuft unter dem Titel Cold Ice.