Das Meer ist die Heimat der erfolgreichsten Bakterien unseres Planeten. Die Relevanz von Meeresbakterien in globalen Nährstoffkreisläufen ist gut dokumentiert. Allein die Chemie wurde bisher nicht verstanden. Jetzt entschlüsselte ein interdisziplinäres Forscherteam den Abbauweg der Algenbiomasse. Mit diesem Wissen könnten Algen bald zu einem wichtigen nachwachsenden Biorohstoff werden. Sogar die Herstellung von Bioplastik soll möglich werden.
Algen sind vielfältige pflanzliche Organismen. Durch ihre Photosynthese sind sie der wichtigste Sauerstofflieferant im Wasser und auf der Erdoberfläche. Durch die zunehmende Vermehrung der Algenblüte richten sie allerdings auch Schäden an. Algenblüte ist die Bezeichnung für das massenhafte Auftreten von Algen. Das Problem: Der Abbau von Algen erfordert Sauerstoff. Je mehr Algen abgebaut werden müssen, desto mehr Sauerstoff wird verbraucht und das gefährdet das Leben aller sauerstoffabhängigen Lebewesen im Gewässer.
Nach dem Vorbild der Natur
Die Wissenschaft sucht nach einer industriellen Verwendung für die ökosystemfeindlichen Algenteppiche, welche die Algenblüte verursacht. Dazu sollen die großen Moleküle, die sie produzieren, in verwertbare Einzelteile zerlegt werden, erklärt Christian Stanetty vom Institut für Angewandte Synthesechemie der TU Wien. Vorbild für diesen komplizierten Vorgang ist die Natur – konkret der natürliche Stoffwechsel der Algen, der über bestimmte Bakterien erfolgt.
Stanetty ist Teil des länderübergreifenden Forschungsprojekts POMPU (Proteogenomics Of Marine Polysaccharide Utilization), in dem Forschende Algen als nachwachsende Biorohstoffquelle erschließen wollen. Was Sie von Ihrem Ziel trennte, das war das Verständnis der Chemie von Algen. Algen bilden die Grundlage für das Ökosystem im Meer. Sie speichern mehr Kohlenstoff als die gesamten Landpflanzen. Die Kohlehydrate der Algen werden von Bakterien abgebaut, dadurch werden sie zur wichtigen Energiequelle für die gesamte marine Nahrungskette. Soviel ist bekannt. Unbekannt war bisher, was bei diesem Abbau von Algenbiomasse chemisch genau passiert.
Biochemische Funktionen von Enzymen
Polysaccharide (Mehrfachzucker) aus marinen Algen unterscheiden sich chemisch von denen terrestrischer Pflanzen. Wie Algenpolysaccharide von marinen Bakterien abgebaut werden, war bisher weitestgehend unbekannt. Den Forschenden im Projekt POMPU gelang es jetzt den kompletten Abbauweg von Ulvan, dem wichtigsten Polysaccharid der Alge zu analysieren und zu verstehen. In einem in dem Journal Nature Chemical Biology veröffentlichten Artikel beschrieben sie den Stoffwechselweg, der über biochemische Funktionen von Enzymen führt. Insgesamt sind es sechs verschiedene Enzyme, die Polysaccharide in Monosaccharide zerlegen. Auf diese Weise verwandeln die Enzyme einen bisher ungenutzten Biorohstoff in eine erneuerbare und ökologisch nachhaltige Ressource.
Einen Biorohstoff, der sich für Fermentationen einsetzen lässt, für die Herstellung wertvoller Arten von Zucker und in Zukunft auch für spezielles Bioplastik. Ziel ist eine umweltschonende Kreislaufwirtschaft, in der nachwachsende Rohstoffe möglichst vielfältig genutzt werden.
Unerwartete chemische Pfade
Die Forschenden analysierten, wie das Meeresbakterium Formosa agariphila das Polysaccharid Ulvan abbaut, das die Alge Ulva produziert. Ein Prozess, den Stanetty als kleines chemisches Kunststück bezeichnet: Unter Einsatz von zwölf verschiedenen Enzymen wird das Ausgangsmolekül Schritt für Schritt in immer kleinere Teile zerlegt. Aufgabe der TU Wien war es, mit Hilfe von Kernspinresonanz-Spektroskopie (NMR) und Massenspektrometrie zu klären, wie diese Teile genau aussehen. Die Ergebnisse waren überraschend. Manche der Zerlegungsprodukte sahen anders aus, als erwartet, erklärt Stanetty. Zitat: „Das zeigte uns dann, dass die Bakterien beim Abbau des Polysaccharids andere chemische Pfade einschlagen als gedacht.
Toolbox für die Biorohstoffquelle
Das Verfahren zeigte den Forschenden,
- welche Enzyme die Bakterien in welchem Schritt nutzen;
- wie diese Mikroorganismen Zugang zu ihrer Nahrungsquelle erhalten;
Gleichzeitig ermöglichte es die Entwicklung einer Toolbox mit einer Reihe von neuen Biokatalysatoren, mit denen das komplexe marine Polysaccharid gezielt als Rohstoffquelle für Fermentationen verwendet werden kann, erklärt Professor Uwe Bornscheuer von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald.
Völlig CO2-neutral
Professor Marko Mihovilovic von der TU Wien betont, dass der Einsatz von Algen zur Synthese von Kohlenwasserstoffen völlig CO2-neutral ist und sieht im erfolgreichen Projekt einen Schritt hin zu einer nachhaltigen Chemie, die eine echte, ökologisch sinnvolle Kreislaufwirtschaft ermöglicht.
Die Synthese ermöglicht es, fossile Rohstoffe zu ersetzen, so seine Perspektive. Wenn es auch zunächst eher einfache Produkte sein werden, wie etwa spezielle Arten von Zucker. Zitat: “Aber je besser wir die Chemie dahinter verstehen, desto besser wird es uns gelingen, diese Algen auch als Ausgangsstoffe komplizierter Synthesen zu nutzen, bis hin zu Bioplastik.“
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Den Erfolg der komplexen Forschung führt der Wissenschafter auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Mikrobiologen, Biotechnologen, Biochemikern und Organischen Chemikern zurück. Das Projekt wurde von Professor Thomas Schweder von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald und Professor Rudolf Amann vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie, Bremen geleitet. Außerdem beteiligt waren die TU Wien, die Universität Bremen, das Zentrum für Marine Umweltwissenschaften Marum und die Biologische Station Roscoff (Frankreich).
Publikation:
Reisky, L./Préchoux, A./Zühlke, M.K./Bäumgen, M./Robb, C.S./Gerlach, N./Roret, T./Stanetty, C./Larocque, R./Michel, G./Song, T./Markert, S./Unfried, M./Mihovilovic, M.D./Trautwein-Schult, A./Becher, D./Schweder, T./Bornscheuer U.T./Hehemann, J.H. (2019): A marine bacterial enzymatic cascade degrades the algal polysaccharide ulvan. In: Nature Chemical Biology.
Auch interessant:
Statt Chemie: Biologischer Pflanzenschutz für Meeresalgen
Die empfindliche Blutalge ist noch weitgehend unerforscht