Wer schon einmal einen Verkehrsunfall auf sich zukommen gesehen und schließlich erlebt hat, wird es kennen: Auch wenn man – hoffentlich – unverletzt blieb, ist man am nächsten Tag mit Muskelkater geplagt. Der Grund: Wir bereiten uns instinktiv auf den Unfall vor, um uns zu schützen. Der Mensch spannt nämlich kurz vor dem Aufprall die Muskeln an, stützt sich zum Beispiel am Lenkrad ab oder tritt vielleicht sogar das Bremspedal durch. Und letztendlich beeinflusst genau dieses Verhalten den Ausgang des Unfalls und die Art und Schwere der Verletzungen. Forschende des Fraunhofer-Instituts für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut, EMI untersuchten nun erstmals die Insassensicherheit auf Basis der Muskelsteifigkeit anhand von virtuellen Crashtest-Dummys.
Berechnung der Bewegung kurz vor Unfall
Die Muskulatur hat einen großen Einfluss darauf, wie ein Fahrzeuginsasse kurz vor einem Unfall reagiert und wie sich der Körper während des Crashs verhält. Hier kann es zu gravierenden Abweichungen gegenüber steifen und kinematisch eingeschränkten Crashtest-Dummys kommen“, erklärt Dr. Matthias Boljen, Wissenschaftler am EMI.
Da also die herkömmlichen Dummys kein Reaktionsvermögen besitzen, lässt sich mit diesen das menschliche Verhalten kurz vor dem Unfall nicht abbilden. Deshalb verwendeten die Wissenschaftler des EMI ein THUMS(TM) v5.01-Modell (Total Human Modell for Safety). Dieses digitale Computermodell kann – anhand eines speziellen Berechnungsmodells zur Festigkeit und Verformung, der sogenannten FE-Simulation (Finite-Elemente-Simulation) -, die Bewegung der Insassen kurz vor einem Unfall nachvollziehen.
Forschungsneuland
Die Wissenschaftler des EMI betraten mit ihrem Forschungsansatz zur Untersuchung der Insassensicherheit auf Basis der Muskelsteifigkeit Neuland. Denn die mit der Kontraktion einhergehende Muskelsteifigkeit und ihre Folgen ist bis dato noch nicht betrachtet worden. „Stützt sich ein Fahrer vor dem Aufprall auf dem Lenkrad ab, so verkürzt sich dabei nicht nur der Muskel, sondern der Muskel wird durch die Kontraktion steifer. In bisherigen FE-Simulationen zu einzelnen Muskeln und Muskelgruppen gesamter Menschmodelle wurde die Kontraktion völlig unberücksichtigt gelassen”, erläutert Boljen.
So ist im Aufmacherbild dieses Artikels ein Offset-Crash im angespannten Muskelszustand von THUMS zu sehen. Dabei werden mögliche Herausforderungen für die passive Sicherheit in einem vom Frontalcrash abweichenden Unfallszenario deutlich: Der Längsgurt rutscht ab.
Auch das obige Bild simuliert einen Frontalcrash im angespannten Muskelzustand des Menschmodells THUMS. Über die aktive Muskelkontraktion hält sich THUMS am Lenkrad fest und stützt sich beim Aufprall ab. Das entlastet den Brustkorb potenziell. Die farbigen Oktaeder machen die verschiedenen Anschnallpunkte des modellierten Sicherheitsgurtes sichtbar.
Weiterentwicklung der Menschmodelle
Gemeinsam mit seinem Kollegen Niclas Trube definierte Boljen an dem THUMS-Modell vier verschiedene Steifigkeitszustände. Die beiden überprüften den Einfluss dieser Änderungen für einen simulierten, frontalen Crash. Das Ergebnis: Die Muskelsteifigkeit beeinflusst das Verhalten der Fahrzeuginsassen entscheidend. Je nach Steifigkeitsgrad sind unterschiedliche Verletzungen bei einem Unfall zu erwarten.
Diese Erkenntnis könnte von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung der Menschmodelle sein, insbesondere unter dem Aspekt des autonomen Fahrens. Fahrzeuginnenräume werden künftig neu gestaltet, daher müssen auch bestehende Konzepte zu Gurten und Airbags überdacht werden. Menschmodelle sind hier ein wertvolles Hilfsmittel“, ist Trube überzeugt.
Anforderungen an die Verkehrssicherheit
Denn die Menschmodelle lassen sich auch für den Schutz von Fußgängern und Radfahrern nutzen. Dass hier Handlungsbedarf besteht, zeigen aktuelle Studien. Laut ADAC ist die Zahl getöteter PKW-Insassen und Fußgänger zwar leicht gesunken, jedoch die Anzahl getöteter Radfahrer ist gestiegen. Dies mag an einer Häufung überraschend auftretender Gefahrensituationen durch E-Bikes liegen. Zudem werden E-Scooter, Tretroller mit Elektromotor, noch dieses Jahr auf öffentlichen Straßen erlaubt sein. Verkehrsexperten befürchten einen weiteren Anstieg von Unfällen. Mit Menschmodellen können Unfallszenarien im Vorfeld untersucht werden. Je nach Kollisionsverhalten lassen sich Häufigkeit und Intensität der auftretenden Belastungen testen. Hersteller von Protektoren, Helmen und anderen Schutzartikeln könnten von den Empfehlungen profitieren.
Virtuelle Menschmodelle auch für Medizin interessant
Wie der menschliche Körper auf mechanische Belastungen reagiert, ist aber nicht nur für den Verkehrssektor relevant, sondern auch für medizinische und ergonomische Fragestellungen. So ist es sicher relevatn, zu wissen wie sich Materialien aus Implantaten und Prothesen in Relation zu menschlichen Knochen verhalten, wenn sie beispielsweise durch einen Unfall schlagartig beansprucht werden? Oder auch wie sich die Vibrationen von Werkzeugen auf den Anwender auswirken. “Hier bieten sich Menschmodelle an, da wir mit ihnen realistische virtuelle Abbilder schaffen können, die sich experimentell so nicht realisieren lassen”, so Boljen.