Als die Ampel die Koalitionsverhandlungen startete, war für fast alle Beobachter eines klar: das Tempolimit, das es überall in Europa bereits gibt, wird auch in Deutschland kommen. Die Überraschung war groß, als bereits nach frühen Verhandlungstagen erklärt wurde, dass man daran nicht rühren würde.
Beobachter waren sich allerdings selbst nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen einig, dass das Thema immer wieder aufs Tapet kommen würde. Durch den russischen Überfall auf die Ukraine wird das Thema nicht nur in der twitter-Blase derzeit extrem emotional „diskutiert“.
Für Pragmatiker kaum verständlich
Ich möchte vorausschicken, dass ich persönlich in dieser Angelegenheit (fast) völlig neutral bin. Mir ist es völlig egal, ob das Tempolimit kommt oder nicht, denn ich fahre gerne schnell auf der Autobahn (wo es geht) und kann mich ebenso gut dem fließenden Verkehr bei moderaten Geschwindigkeiten anpassen.
Aber ich bin Pragmatiker. Die Argumente pro Tempolimit überzeugen mich leider nicht. Natürlich, eine gewisse Emissions-Einsparung ist zu erreichen, der Kraftstoffverbrauch wird um das eine oder andere Prozent sinken, aber Herrn Putin (und das Klima) wird das kaum beeindrucken, denn wir reden hier von ganz anderen Dimensionen.
Das tatsächliche Energie-Dilemma ist weit größer
Die grüne Ökoblase versteckt sich derzeit hinter dem Ukraine-Krieg und dem Energiedilemma, um das Tempolimit doch noch durchzusetzen. Man rückt „uneinsichtige“ Autofahrer zunehmend in die moralisch verkommene Ecke und versucht Verbindungen aufzumachen, die letztlich jeden Tempolimit-Gegner zu einem schlechten Menschen abstempeln.
Was ist nur mit dieser Gesellschaft passiert? Die Zahlen zeigen eindeutig, dass das Tempolimit nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein wird, bestenfalls dafür geeignet, um das Gewissen zu beruhigen.
Der weiße Elefant im Zimmer
Faktisch gibt es weit eindrucksvollere Möglichkeiten, eine Menge russisches Gas, Öl und Steinkohle einzusparen. Dieser weiße Elefant jedoch, der seit einiger Zeit im Raum steht, wird gerne ignoriert.
Ich rede von der Laufzeit-Verlängerung der 3 Ende 2021 abgeschalteten Atomkraftwerke und der noch laufenden Anlagen, die spätestens Ende des Jahres 2022 stillgelegt werden sollen.
Hier zeigt sich die volle Unlogik einer ideologiegetriebenen Politik, die lieber Gas- und Kohleabhängigkeiten weiterbetreiben möchte, als pragmatisch vorzugehen. Sicher, das Wiederanfahren der drei abgeschalteten AKW wird nicht einfach. Und auch die Laufzeitverlängerung der drei noch laufenden Kraftwerke wird die deutsche Bürokratie, die ebenfalls ideologisch durchwachsen ist, „mental“ aufs äußerste „belasten“. (Siehe dazu dieses Essay von Wolf Lotter)
CO2-Emission pro kWh steigt in Deutschland
Andererseits ist eine Umorientierung von russischen fossilen Energieträgern auf andere fossile Energieträger noch langwieriger und unter dem Strich klimaschädlicher als die Laufzeitverlängerung der verbleibenden AKW.
Bereits letztes Jahr ging der CO2-Ausstoss pro kWh in Deutschland dramatisch nach oben (unter anderem, weil weniger Wind blies als in den Jahren zuvor). Auch wenn es immer wieder (häufig am Wochenende) Tage gibt, an denen Wind- und Solarkraft den Löwenanteil der Stromerzeugung übernehmen – dann, wenn die Industrie als Stromverbraucher weitgehend wegfällt.
Ich finde es auch inzwischen müßig über die Tatsache zu diskutieren, dass bei wenig Wind und Sonne alle Erneuerbaren weniger Anteil zur Stromerzeugung in Deutschland beitragen, als die 3 letzten verbleibenden AKWs. Dass sie in der heutigen Ausprägung (ohne Speichertechnologie) schlicht nicht Grundlast fähig sind.
„Hätte, hätte, Fahrradkette“: Hätte man die deutschen AKW weiter betrieben, wäre man heute bereits unabhängig in der Stromerzeugung vom russischen Gas. Die Industrie könnte auf die nichtrussischen Lieferanten ausweichen.
Gas als wichtiges Element für andere Industrien
Zudem ist beispielsweise Gas als Bestandteil für Vorprodukte in der Chemieindustrie weit wichtiger als für die Stromerzeugung, wenn wir schon über Prioritäten reden. Das Bayerische Chemiedreieck beispielsweise ist zu 100% von russischem Gas abhängig, man benötigt einen ganz speziellen Reinheitsgrad. Hier ist eine Substitution durch Flüssiggas derzeit komplett undenkbar, weil es einen langwierigen und teuren Umbau der Produktionsanlagen nach sich ziehen würde.
Unglücklicherweise ist die ganze Diskussion für eine Kolumne viel zu komplex. Nur ein akribisch recherchiertes Buch würde derzeit ausreichen, die Wirrungen und Irrtümer der ideologiegetriebenen deutschen Energiepolitik aufzuzeigen, die selbst Publikationen wie die Washington-Post immer weniger nachvollziehen können. Und der umstrittene Klimaaktivist Michael Shellenberger hat dazu gerade ein bemerkenswertes Werk abgeliefert.
Tempolimit
Damit wir uns richtig verstehen: Der Ausbau der regenerativen Energieerzeuger wie Wind und Solar muss weiter beschleunigt werden. Die Atomenergie kann nur eine Übergangslösung sein, die letztlich ausgephast werden sollte. Die Atomenergie zugunsten von Kohle und Gas früher auszuphasen war ein energie- und klimapolitischer Schildbürgerstreich par excellence.
Was mich zurück zum Tempolimit bringt, denn wer derzeit auf den deutschen Autobahnen unterwegs ist, lernt die funktionierende Marktwirtschaft kennen.
Durch die hohen Spritpreise haben sich die Durchschnittsgeschwindigkeiten auf den wenigen unlimitierten Autobahnabschnitten bei 120-140 km/h eingependelt. Viele fahren gar nur 100 km/h oder hängen sich hinter Lkw um Sprit zu sparen. Die Emissions-Einsparung ist derzeit bereits in vollem Gange – ganz ohne staatliche Verordnung.
Nur die hitzigen Diskussionen in den sozialen Medien darüber gehen weiter. Was für eine Energieverschwendung…
Über diese Kolumne
In einer wöchentlichen Kolumne, die abwechselnd von Eveline van Zeeland, Eugène Franken, PG Kroeger, Katleen Gabriels, Carina Weijma, Bernd Maier-Leppla, Willemijn Brouwer und Colinda de Beer geschrieben wird, versucht Innovation Origins herauszufinden, wie die Zukunft aussehen wird. Diese Kolumnisten, die manchmal durch Gastblogger ergänzt werden, arbeiten alle auf ihre Weise an Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Hier finden Sie einige der bisherigen Folgen.