Jedes Gehirn ist anders – das einmal vorweg. So gibt es nicht nur Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen, sondern man kann Gehirne auch aufgrund ihrer Alterseffekte, der Variabilität in Bezug auf ihre individuellen Persönlichkeitsmerkmale, Leistungsunterschiede oder kognitiven Beeinträchtigungen unterscheiden. Hinzu kommen noch weitere Faktoren, die die individuelle Hirnvariabilität beeinflussen. Dazu gehören Hormonschwankungen, Tageszeitrhythmen, Motivationsänderungen und andere interne und externe Faktoren. Und erst wenn man diese Punkte alle berücksichtigt, sind individuelle Prognosen über Unterschiede in Charakterzügen, kognitiven Leistungen, menschlichem Verhalten sowie auch über Krankheitsbilder möglich.
Wie man sieht, das Gehirn ist ziemlich komplex. Nichtsdestotrotz: Irgendwo muss man ansetzen. Und so haben Jülicher Forscher rund um Privatdozentin Dr. Susanne Weis eine selbstlernende Software erfolgreich darauf trainiert, per Künstlicher Intelligenz (KI) zu erkennen, ob ein fMRT-Scan ein weibliches oder männliches Gehirn zeigt. Zwar gab es schon zuvor einige Studien in Bezug auf den Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen, doch sind diese aufgrund der sehr kleinen Datenmengen umstritten. Zumal so Faktoren, die nicht offensichtlich sind, die Ergebnisse leicht verfälschen können.
„Unsere Methodik unter Einsatz von künstlicher Intelligenz liefert dagegen sehr vertrauenswürdige Ergebnisse“
…, erklärt Dr. Susanne Weis vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin im Forschungszentrum Jülich und am Institut für Systemische Neurowissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Unterschied in funktioneller Konnektivität
Laut der aktuellen Studie unterscheidet sich das weibliche und das männliche Gehirn besonders in der funktionellen Konnektivität bestimmter Bereiche des Gyrus cinguli (Teil des limbischen Systems), des Precuneus (wichtig für die visuelle Vorstellung) und der medialen frontalen Hirnrinde (wichtig für die Steuerung von situationsangemessenen Handlungen und der Regulation von emotionalen Prozessen). Letzendlich sind diese Netzwerke an der Sprachfunktion, der Verarbeitung von Gefühlen und der sozialen Wahrnehmung wesentlich beteiligt.
Die Hirnforscher um Susanne Weis und Prof. Simon Eickhoff nutzten für ihre Studie zunächst Hirnscans von 434 Probanden im Alter zwischen 22 und 37 Jahren des „Human Connectome Projects“. Die Hirnscans – genauer: die funktionellen Magnetresonanztomografien (fMRT) – machen Bereiche im Gehirn sichtbar, die im Moment der Aufnahme aktiv sind und miteinander agieren. Die Probanden hatten während der Aufnahmen ihren Gedanken freien Lauf gelassen. Dazu Weis:
„Unsere Ergebnisse basieren ausschließlich auf der Aktivität in Ruhe, das heißt, die Probanden haben keine bestimmten Aufgaben bearbeiten müssen. Es geht somit um die intrinsische, aufgabenunabhängige funktionelle Organisation des Gehirns.“
Und eben nicht, wie manch einer vielleicht gerne bestätigt gesehen hätte, um Unterschiede beim Lösen von kognitiven, mathematischen oder kreativen Aufgaben.
Software wurde trainiert
Die Forscher trainierten ihre lernende Software darauf, den neuronalen Verbindungsmustern das Geschlecht der Probanden zuzuordnen. Auch gaben die Wissenschaftler der Software dabei stets Rückmeldung, inwieweit das Ergebnis richtig war. Somit war es der KI möglich, ihr mathematisches Modell schrittweise zu verbessern. Anschließend setzten die Wissenschaftler die KI dazu ein, anhand von fMRT-Aufnahmen das Geschlecht von 310 anderen Probanden des Human Connectome Projects und von 941 Probanden der 1000-Gehirne-Studie vorherzusagen. Dies gelang ihr mit einer Treffergenauigkeit von rund 70 Prozent.
„Die Studienergebnisse zeigen, dass Bereiche im Gehirn bei Frauen anders vernetzt und verknüpft sind als bei Männern“
…, sagt Susanne Weis. Sie betont:
„Die Resultate erlauben jedoch keinesfalls eine Wertung dieser Unterschiede etwa nach dem Motto: Frauen können besser mit Gefühlen umgehen.“
Viele weitere Faktoren berücksichtigen
Offen bleiben müsse zunächst auch die Frage, welche Gründe es für diese Unterschiede im Gehirn gebe: Denkbar wären beispielsweise sowohl biologische als auch erworbene Ursachen, etwa durch die Erziehung. Deshalb unterstreicht sie nochmals, dass es nicht „das männliche“ oder „das weibliche“ Gehirn gibt, und
„…, dass die individuellen Unterschiede im Gehirn von sehr viel mehr Faktoren, zum Beispiel sozialen Einflüssen, Hormonen, Geschlechtsidentität, beeinflusst werden, als nur vom biologischen Geschlecht.“
In der aktuellen Studie hat das Forscherteam um Weis das Geschlecht zunächst als rein binär betrachtet. Prinzipiell könnten sie mit der angewandten Methodik aber auch untersuchen, inwieweit sich beispielsweise Inter- oder Transsexualität in den Netzwerken im Gehirn widerspiegeln.
„Doch dafür müssten Hirnscans und Daten einer größeren Zahl von Inter- oder Transsexuellen verfügbar sein. Entsprechend umfangreiche Studien liegen bisher aber noch nicht vor“
…, so Weis. Auch hat die Wissenschaftlerin noch ein weiteres Forschungsziel im Visier:
„Wir möchten herausfinden, welche Faktoren die Geschlechtsunterschiede in der Gehirnorganisation modulieren. Hier interessieren uns zunächst insbesondere der Einfluss von natürlich fluktuierenden Hormonen – z.B. Progesteron, Östradiol, Testosteron -, und die selbst empfundene Geschlechtsidentität.“
Die Studie der Wissenschaftler aus Jülich, Düsseldorf und Singapur ist kürzlich in der Fachzeitschrift „Cerebral Cortex“ erschienen und als Originalpublikation hier nachzulesen: