Diabetes ist nicht mehr nur eine Krankheit von Industrieländern. Laut des Weltgesundheitsberichts der WHO von 2016 sind mittlerweile vor allem auch Schwellenländer betroffen. Unter anderem Indien. Hier ist etwa jeder Zehnte zuckerkrank. Dabei ist gerade Typ-2-Diabetes, sie gilt als Wohlstandskrankheit, vermeidbar. Wer gesund lebt, sich viel bewegt und ausgewogen ernährt, auf ein normales Körpergewicht achtet und auf Zigaretten verzichtet wird eher nicht an dieser Stoffwechselkrankheit leiden. Und: Rechtzeitig erkannt kann der Betroffene darauf hoffen, dass er mit wenigen Medikamenten auskommt. Zudem könnte sich seine Insolinresistenz sogar wieder umkehren. Somit müsste er eben nicht mit Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen, Nervenschäden, dem diabetischen Fuß und Erblindung rechnen.
In Indien leidet etwa jeder dritte Zuckerkranke an einer diabetischen Retinopathie (DR). Das ist eine durch Diabetes hervorgerufene Erkrankung der Netzhaut. Unbehandelt führt die DR häufig zur Sehbehinderung und sogar Blindheit. Ein Problem, das vor allem auf dem Land, wo es keine ausreichende medizinische Versorgung gibt, häufig vorkommt.
Pilotprojekt in Bangalore
Und genau hier setzt das gerade von Dr. Maximilian Wintergerst, Arzt an der Augenklinik des Universitätsklinikums Bonn und seinem Kollegen, Prof. Robert Finger in Kooperation mit Dr. Kaushik Murali und Dr. Mahesh Shanmugam der Sankara Eye Foundation Bangalore ins Leben gerufene Pilotprojekt an.
Die Mediziner möchten gemeinsam vor Ort eine mobile, effektive und kostengünstige Lösung zur Früherkennung von DR testen. Es handelt sich dabei um ein gängiges Smartphone in Kombination mit einem entsprechenden Adapter. Denn hiermit können medizinisch geschulte Hilfskräfte eine notwendige Augenspiegelung, auch Funduskopie bzw. Ophthalmoskopie genannt, durchführen.
Dazu Dr. Wintergerst:
„Smartphones sind heutzutage allgegenwärtig und die Kameras vieler Geräte sind so gut, dass sie sich prinzipiell für die medizinische Bildgebung eignen.“
Der zugehörige Adapter, also der Smartphone-Augenspiegel, kostet nur wenige hundert Euro. Zudem ist er schnell und einfach zusammengebaut. Für das Screening-Verfahren nutzen die Ärzte die Kamera des Smartphones, um ins Auge zu sehen. Dazu fokussiert der Adapter den Strahlengang der Kamera und der Beleuchtungsquelle so, dass die Mobiltelefone wie ein Augenspiegel funktionieren.
Untersuchung per Telemedizin
So können die Hilfskräfte fernab eines medizinischen Zentrums Aufnahmen von der Netzhaut des Patienten machen. Die Bilder werden dann vom Smartphone per Internet an den Augenarzt im Krankenhaus gesendet. Und dieser erkennt sofort, ob ein Patient eine DR hat.
„Durch die Ophthalmoskopie können Augenerkrankungen des hinteren Augenabschnittes, wie beispielsweise die Diabetische Retinopathie, erfasst werden“, erklärt Dr. Wintergerst und er ergänzt „sie zeigt sich durch eine Schädigung kleiner Blutgefäße, der sogenannten Mikroangiopathie.“
Mit den durch die Telemedizin erhaltenen Informationen kann der Arzt auch gleich beurteilen, ob eine Behandlung notwendig ist. Und diese könnte dann zum Beispiel eine Laserbehandlung sein. Ist die Netzhaut unterversorgt, kann sie verödet werden. All dies erfordert natürlich eine gute Ausbildung der Ärzte. Doch immerhin: Gerade in Indien bieten Krankenhäuser ärmeren Menschen kostengünstige bis kostenlose Behandlungen an, deren Auslagen in anderen Bereichen wieder kompensiert werden.
Vorstudie lief erfolgreich
Bevor die deutschen und indischen Mediziner das derzeitige Pilotprojekt ins Leben riefen, testeten sie in einer Vorstudie direkt vor Ort verschiedene Anwendungen. Denn, so Dr. Wintergerst:
„Es ist natürlich ein Unterschied, ob die Geräte an Orten mit Maximalversorgung und von Augenärzten mit entsprechender Erfahrung getestet werden oder vor Ort, wo die Infrastruktur nicht optimal ist und die Untersuchungen durch augenärztliches Hilfspersonal durchgeführt wird.“
Für ihre erste Studie nahmen die Forscher mit den entsprechend aufgerüsteten Smartphones Bilder des Augenhintergrundes von 200 Diabetes-Patienten in Bangalore auf. Ihr Fazit: Prinzipiell war mit allen Smartphone-basierten Verfahren eine Augenhintergrund-Untersuchung möglich. Doch schließlich entschieden sie sich für den Adapter, der für ihren speziellen Anwendungszweck zur Erkennung der DR am besten geeignet war. Denn es gibt durchaus noch andere Möglichkeiten, das Smartphone in der Augenheilkunde zu verwenden. Dazu Dr. Wintergerst:
„Als bildgebendes Instrument kann ein Smartphone zum Beispiel Schäden am Sehnerv erkennen, und dieser wiederum kann ein Hinweis auf ein Glaukom sein.“
Etablierung von DR Screening
Der von dem deutsch-indischen Mediziner-Team für Bangalore ausgewählte Adapter soll nun für die Dauer des Pilotprojekts eingesetzt werden. Ziel der nächsten zwei Jahre ist die Etablierung eines telemedizinischen DR Screenings in den ärmeren Stadtvierteln von Bangalore und der ländlichen Umgebung.
Mittlerweile sind sämtliche Vorbereitungen getroffen, so dass mit dem Projekt gestartet werden kann. So wurde kürzlich bereits mit der Schulung von 20 Optometristen in der Smartphone-basierten Funduskopie begonnen. Dr. Wintergerst plant zudem, die Screening Camps auch immer mal wieder persönlich vor Ort zu betreuen.
Auch kommen demnächst sechs Augenärzte und Mitarbeiter des Sankara Eye Hospitals Bangalore an die Augenklinik nach Bonn. Denn das dortige GRADE Reading Center ist auf systematisch standardisierte Bildanalyse spezialisiert. Entsprechend werden sie von den hiesigen Experten in die speziellen Anforderungen der Auswertung von mittels Smartphone aufgenommenen Bildern des Augenhintergrunds eingeführt.
„Wichtig ist uns ein nachhaltiger Wissenstransfer, so dass die telemedizinischen Screenings langfristig nach dem Projektende weitergeführt werden können“, betont Wintergerst.
In der Hoffnung, dass alles gut funktioniert, hat er zusammen mit seinen Kollaborations-Partnern aus Indien eine große Vision:
„Eine Ausweitung des telemedizinisches DR-Screening-Programmes auf weitere Krankenhäuser der Sankara Eye Foundation mit dem in Bangalore etablierten telemedizinischen Reading Center als koordinierendes Zentrum. Dies könnte die augenärztliche Versorgung für viele Menschen mit Diabetes, insbesondere in ländlichen Gebieten mit schlechter medizinischer Infrastruktur, deutlich verbessern.“
Auch sieht er das Potential, dass dieses telemedizinische Screening-Konzept, wenn es erfolgreich ist, auf andere Schwellen- und Entwicklungsländer übertragen werden könnte.
Das Projekt wird übrigens im Rahmen einer Klinikpartnerschaft in Höhe von rund 50.000 Euro vom Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit und der Else-Kröner-Fresenius-Stiftung insgesamt über zwei Jahre gefördert.
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