Sie haben eine Art Ultraschallgerät, das alle automatisierten Prozesse durchleuchtet, um verborgene Kosten, Bottlenecks sowie andere Ineffizienzen aufzuspüren. Und wo sie mit ihrer Process Mining Softwarelösung auch hinkommen, Unternehmen können das Ergebnis kaum fassen. Über misslungene Idealbilder, die Kraft von Vorhersagewerten und die Rolle ihres Patenonkels aus Eindhoven. Am Tisch mit den Data Scientists von Celonis aus Den Bosch, ein Unternehmen mit Hunderten von Kunden aus Dutzenden von Ländern, einem geschätzten Wert von rund einer Milliarde und seinem Hauptsitz in München.
Er hört es immer wieder, welches Unternehmen er auch besucht, erzählt Alexander Lethen, regionaler Vizepräsident Benelux von Celonis: „Eure Geschichte ist zu schön um wahr zu sein. Wir kennen die Storys. Es wird schon seit Jahrzehnten behauptet, noch nie konnte jedoch irgendjemand dieses Versprechen wahr machen. Was ihr da sagt, das geht ja auch gar nicht.“ Lethen mit einem Lächeln: „Vielleicht ist es ja auch zu schön um wahr zu sein, aber wir tun wirklich, was wir versprochen haben. Mit unserer Software lassen sich alle IT- gesteuerten Unternehmensprozesse analysieren und visualisieren. So entdeckt man Engpässe, verborgene Kosten und andere Ineffizienzen. Die man dann anschließend gegebenenfalls optimiert.“
Wil van der Aalst
‚Zu-schön-um-wahr-zu-sein‘ erreicht man mit spezieller Process Mining Software von Celonis, erzählt Lethen. Deren Entwicklung hat eine lange Geschichte, die in Eindhoven begann. An der TU Eindhoven bei Professor Wil van der Aalst genauer gesagt. Und das ist nicht irgendein Hochschuldozent, ganz im Gegenteil, er gehört zur internationalen Spitze im Bereich der Data Science und zu den meistzitierten Datenwissenschaftlern der Welt. Und Daten, die sind ganz sein Ding. Mittlerweile arbeitet er nicht mehr für die TU Eindhoven, sondern für die RWTH Aachen. Lethen: „In Unternehmen gibt es zahlreiche automatisierte Prozesse. Von Kundendienst und Produktion bis hin zu Personalbeschaffung und Zahlungsvorgängen. Insgesamt werden so viele Daten erstellt, dass Unternehmen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen können. Sie verlieren den Überblick und so verschwinden wertvolle Informationen im Nichts. Dadurch laufen Prozesse nicht mehr optimal und manchmal laufen sie sogar vollkommen schief. Process Mining gewährt einen Einblick in all diese Prozesse und so kann man sie effizienter einrichten.“
“Vielleicht ist es ja auch zu schön um wahr zu sein, aber wir tun wirklich, was wir versprochen haben.”
Gott des eifrigen Strebens
Van der Aalst ist Mitbegründer des Process Minings; er erfand vor zehn Jahren die zugrunde liegende Technik. Drei deutsche Doktoranden der Technischen Universität München stießen auf seine Ergebnisse. Da befand sich die Forschung zum Process Mining noch in einem sehr wissenschaftlichen Stadium. Angewandte Software gab es nicht. Also schrieben die drei Studenten sie selbst, auf Grundlage der Forschungsarbeit von Van der Aalst. Ihre Idee testeten sie bei einigen ‚Probekunden‘. Die Ergebnisse waren sofort so überraschend, dass sie 2011 beschlossen, ihre Prozess Mining Software auf den Markt zu bringen, unter dem Namen Celonis. Der Name ist vom Namen eines griechischen Gottes abgeleitet, von Zelos – der Personifikation des eifrigen Strebens. Lethen: „Sein Name beginnt eigentlich mit einem Z, aber um einen Firmennamen mit einem Z beginnen zu lassen, na ja. Dann steht man in den Gelben Seiten ganz hinten. Die Anfangsbuchstaben A, B oder C sind dann die bessere Wahl, daher Celonis.“
Data Mining versus Process Mining
Zunächst einmal etwas zum Unterschied zwischen Data Mining und Process Mining. „Erstgenanntes bleibt eher an der Oberfläche“, sagt Ron Pelsmaeker, Marketing & Inside Sales bei Celonis. „Damit analysiert man statistische Daten, wie sie zum Zeitpunkt der Analyse in Datenbanken gespeichert sind. Mit Process Mining taucht man viel tiefer in den Datenpool ein. Man verknüpft Informationen und beleuchtet, wie die Daten entstanden sind.” Er vergleicht Process Mining mit einem Ultraschall für Unternehmen. Keine Momentaufnahme, keine Stichprobe, sondern ein Foto, während das Unternehmen auf ‚EIN‘ steht. Erst dann kann man einen Prozess auch holistisch analysieren. „Man sieht in Echtzeit genau, wie Prozesse ablaufen und wo und wie sie eventuell hängen bleiben.“ Nach dem Ultraschall schaut man weiter als nur auf die Stelle des Problems. Wie ein guter Arzt das auch machen würde, meint er. Der untersucht bei körperlichen Beschwerden genauso den ganzen Körper und den Lifestyle des Patienten. „Auch ein Unternehmensprozess ist keine isolierte Angelegenheit. Nehmen Sie zum Beispiel Herstellungsprozesse. Häufig sind sie vollständig automatisiert. Dennoch kann mal etwas schiefgehen, zum Beispiel bei einem Spritzverfahren: Roboter können nicht richtig eingestellt sein. Vielleicht hat ein Lieferant eine schlecht deckende Farbe bestellt. Oder das Personal ist nicht ausreichend geschult. Und denkt die Funktion der Maschine zu verstehen, macht aber ständig die gleichen Fehler.“
Nicht von A bis Z
Pelsmaeker weiß wie das abläuft. In jedem Unternehmen werden die meisten Prozesse kodiert und als Idealbild festgelegt. In Wirklichkeit laufen sie jedoch zu häufig anders ab, da sich nicht alle von A bis Z an die festgelegten Schritte halten. Das ist vielleicht typisch Mensch, meint Pelsmaeker, dass man denkt, ach, diesmal tun wir‘s halt mal anders. Die Lieferzeit ist fünfzehn Tage, aber nun ja, es ist der Auftrag eines Stammkunden, den man persönlich auch noch gut kennt und der die Bestellung schnell benötigt. Also weicht man vom Idealbild ab. Ist das etwa die Ausnahme? Nein, ganz und gar nicht. Lethen: „In vielen Fällen weicht man in Unternehmen von der vorgeschriebenen Strecke ab. Ob es dabei nun um finanzielle Prozesse geht oder Herstellungs- oder Bewerbungsverfahren betrifft.“
„Da gibt es große Unterschiede zwischen Theorie und Praxis. Ohne dass es jemand im Unternehmen wahrnimmt. Das ist doch seltsam.”
Einkaufsprozess
Lethen zeigt das Beispiel eines Einkaufsprozesses eines großen B2B-Unternehmens. Über eine Million Aufträge, die gut sind für über zwei Milliarden an Kosten. Der Einkaufsprozess beginnt, sobald man etwas bei dem Unternehmen kauft, und endet mit der Bezahlung. Ein klarer und einfacher linearer Prozess. Man sendet eine Bestellanforderung und erhält ein Bestellformular. Das füllt man aus. Die Bestellung wird erteilt und verschickt. Die Rechnung geht ein, wird gebucht, bezahlt und fertig, das war‘s. Ganz einfach, oder? Ist es aber nicht, denn längst nicht alle im Unternehmen hielten sich an diesen Ablauf, erzählt Lethen. „Von dieser scheinbar so einfachen Strecke von Bestellung bis Bezahlung gab es in dem genannten Unternehmen hunderte Varianten.“ Die Bestellaufforderung fehlte; jemand erhielt zuerst die Rechnung; Preis oder Lieferzeit wurden geändert; Mitarbeiter umgingen die Einkaufsabteilung, da sie für bürokratisch und träge gehalten wurde. Lethen: „Das Standardverfahren wurde in nur weniger als der Hälfte aller Fälle angewandt. Setzt man all diese Abweichungen auf ein imaginäres lineares Schema, ergibt das einen spaghetti- ähnlichen Wirrwarr von Linien und Verbindungen.
Übel
Einem CMO, CFO oder CEO stößt es häufig bereits übel auf, wenn er diese Spaghetti nur sieht. „Das geht nicht, so sind wir nicht. So unorganisiert können wir doch gar nicht sein. Unser Business haben wir doch ganz geschickt aufeinander abgestimmt.“ Aber Daten lügen ja nicht. Lethen: „Innerhalb eines Prozesses analysiert häufig jeder nur einen kleinen Teil. Menschen sehen deshalb nur ein paar kleine Schritte. Das Gesamtbild fehlt dann meistens.“ Die servierte ‚Spaghetti di Celonis’ verdeutlicht dieses Gesamtbild auf einmal. So wird visualisiert, wo sich die gedachte Gerade plötzlich schlängelt, wo sie abbiegt, und wie man sie wieder begradigen kann. „Da gibt es große Unterschiede zwischen Theorie und Praxis. Ohne dass es jemand im Unternehmen wahrnimmt. Das ist doch seltsam.”
Formel-1-Strecke
Deshalb entscheidet man sich ja fürs Process Mining, unterstreicht Pelsmaeker. „Man will einen Einblick in Engpässe im Unternehmensprozess erlangen und wissen, welche davon unnötig viel Zeit oder Geld kosten.“ Das müsse nicht unbedingt heißen, dass man alle Fallstricke und Engpässe sofort beseitigt, sagt er. Bei manchen Abweichungen könnte man auch sagen: „Ach, wisst ihr was, das geht schon Jahre so und es läuft prima. Wenn wir es doch anpassen, führt es intern vielleicht zu Reibereien und Widerstand; das wäre schlecht für unsere Kultur. Also lassen wir‘s mal so.“
Den Bosch
Celonis hat sich für Den Bosch als Startpunkt zur Eroberung der Benelux entschieden. Das hat vor allem mit dem Sitz der Jheronimus Academy of Data Science (JADS) zu tun, gegründet von den Universitäten in Tilburg und Eindhoven. An dieser Datenakademie können Studierende seit 2016 den Studiengang Data Science & Entrepreneurship absolvieren, der aus einer Kombination von Fächern beider Unis besteht. Mathematik und Technik kombiniert mit sozialen, ethischen und juristischen Themen. Aber wohin mit diesem
Studiengang? Sich für die eine Universitätsstadt zu entscheiden, das wäre eine Entscheidung gegen die andere und würde für politischen Wirbel sorgen. Und dann fiel der Blick auf Den Bosch. Dort gibt es keine Universität und die Stadt lässt sich sowohl von Tilburg als auch von Eindhoven aus einfach erreichen. Einen Standort gibt es auch: das ehemalige Kloster Mariënburg am St. Janssingel. Nur einen Steinwurf vom Bahnhof. Und dort findet man auch Celonis, oben im JADS-Gebäude, unterm Dach.
Data Science Biotop
Bei JADS befinden sich über ein Dutzend Datenunternehmen und hunderte internationale Studierende unter einem Dach. Zwei Jahre werden sie dort unterrichtet und dann können sie, wenn sie wollen, unmittelbar nach ihrem Abschluss in eines der dort befindlichen Unternehmen wechseln. Pelsmaeker: „Es ist schwierig, gute Data Scientists zu finden. Uns haben sie hier ab dem ersten Studienjahr auf ihrem Radar.” Und die Studierenden wissen Celonis zu finden. Logisch. Das Softwareunternehmen ist Marktführer im Bereich enterprise- ready Process Mining und es wächst und gedeiht. Es hat verschiedene Niederlassungen und Büros in Europa (München, London und Den Bosch) sowie in den USA (u.a. New York). Weltweit zählt Celonis inzwischen über vierhundert Beschäftigte, hauptsächlich junge, hoch qualifizierte Data Scientists. Eine Verdopplung innerhalb eines Jahres. Auch die Niederlassung in Den Bosch platzt fast aus allen Nähten. Aber hier wegziehen, no way. Weil es ihnen in ihrem Data Science Biotop in Den Bosch so gut gefällt.
Predictive Analytics
Denn sicher ist, dass Celonis ständig neue Menschen braucht. Niemand soll denken, das Produkt sei jetzt fertig. Das gilt für alle Technologien: Software muss man ständig optimieren. Dabei arbeitet Celonis eng mit seinem ‚Patenonkel‘ Van der Aalst sowie mit der TU Eindhoven zusammen. Mit dem Ziel mehr Einsicht in Unternehmensprozesse zu erlangen und noch bessere Diagnosen zu stellen. Lethen: „Wir konzentrieren uns zielgerichtet auf Vorhersagewerte anstatt auf Analysen im Nachhinein. So kann man mögliche Prozessprobleme bereits eliminieren, bevor sie in Erscheinung treten. Und vielleicht vorhersagen, wann man Kunden verlieren wird, sodass man rechtzeitig in Aktion kommen kann, um sie doch zu behalten.
„Es ist schwierig, gute Data Scientists zu finden. Uns haben sie hier ab dem ersten Studienjahr auf ihrem Radar.”
Chief Process Owner
Celonis ist der Liebling der Investoren. Das Softwareunternehmen ist auf Papier eine Milliarde Dollar wert. Lethen und Pelsmaeker zucken dazu nur mit den Schultern. Viel lieber erwähnen sie ihre Kunden. Hunderte, aus 25 Ländern. Sowohl große Jungs der Fortune 500 als auch mittelgroße Unternehmen. „Process Mining ist vor allem interessant für Unternehmen, die viele Vorgänge haben. Häufig Organisationen mit einem Umsatz im dreistelligen Millionenbereich.“ Pelsmaeker und Lethen denken, dass sie einmal selbst Process Mining einsetzen werden. Mit einem CPO – Chief Process Owner – der vom Schreibtisch aus sehen kann, ob alles richtig läuft. Lethen: „Unsere Software ist ein starkes Ultraschallgerät, das alle automatisierten Prozesse durchleuchtet, um festzustellen, wo der Kern eines Problems liegt. Für Expertenfragen braucht man Datenkenner. Der Output ist für die breite Masse verständlich.“ Bei Siemens arbeiten schon tausende mit dem Tool, nicht nur Datenwissenschaftler. Aufgrund der Niederschwelligkeit wird Process Mining einen noch größeren Aufschwung erleben. Und das habe noch etwas schrecklich Attraktives, meint Pelsmaeker: „Bei jeder Diskussion ist man mit wenigen Mausklicks bei den zugrunde liegenden Fakten. ‚Schau mal, hier sind die Bestellungen, und das hier ist echt passiert.‘ Subjektive Wahrnehmung wird zur objektiven Wahrnehmung. So vermeidet man interne Streitereien und politische Auseinandersetzungen.“