Mario Rothbauer (c) TU Wien
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Die medizinische Forschung hat eine lange Tradition in Tierversuchen. Neben dem ethischen Problem entbehren Tierversuche aber auch der Zuverlässigkeit. Mäuse reagieren nicht immer genauso wie Menschen auf Krankheiten und Wirkstoffe. So ist etwa Schokolade für Hunde giftig, erklärt Projektassistent Mario Rothbauer von der Cellchip Group an der TU Wien. Außerdem sind Tierversuche kaum exakt reproduzierbar. Kleine Veränderungen in der Haltung und der Behandlung der Tiere können große Auswirkungen auf die Endergebnisse haben.

Das Team um Rothbauer strebt eine alternative, tierversuchsfreie medizinische Forschung an. Die Methode basiert auf der Simulation von menschlichen Organen unter kontrollierten Bedingungen im Biochip. In diesen sogenannten organ-on-a-chip Systemen sind Daten zu erheben, die man bei einem Versuchstier gar nicht messen könnte. Zudem ist dieser Ansatz besser kontrollierbar und zuverlässig.

Tierversuchsfreie medizinische Forschung

Im Biochip werden Gewebetypen eingebracht, die für eine bestimmte medizinische Fragestellung relevant sind. Im Fall von Arthritis kann zum Beispiel wucherndes Gewebe aus dem Gelenk entnommen und zur Simulation im Biochip angewendet werden. Wenige Quadratmillimeter Gewebe reichen aus. Auf diese Weise können Therapien präzise auf Patienten abgestimmt werden und soll eine neue Form von Präzisionsmedizin entstehen.

Rothbauer und seine Kollegen möchten nicht nur ethische und präzisere Alternativen zu Tierversuchen bieten. Sie wollen vollkommen auf Substanzen verzichten, die aus tierischen Produkten gewonnen wurden. Für Rothbauer ist die Entscheidung für die tierversuchsfreie Medizin eine Entscheidung, wie man mit Ressourcen umgeht – und ob man für oder gegen Tierleid ist. Zudem sieht er darin auch einen kulturellen Wandel. Zitat: „Normen ändern sich, wenn sich Gesellschaften ändern.“

Sein Projekt 3D-Synovium-on-a-chip als Krankheitsmodell für rheumatoide Arthritis wurde jetzt vom Verein Ärzte gegen Tierversuche mit einem Herbert-Stiller-Förderpreis ausgezeichnet. Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert.

Mario Rothbauer im Interview:

In der Medizin sind Tierversuche noch Standard. Die Kosmetik-Entwicklung kommt bereits ohne Tierversuche aus. Wie können wir das verstehen?

Man muss die Problematik etwas differenzierter betrachten: Die Industrie richtet sich immer nach dem derzeitig gültigen Recht und den daraus abzuleitenden Anforderungen. Wenn Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben sind, werden diese weiterhin auch durchgeführt. Das ist ein ganz einfaches Prinzip.

In der Kosmetikindustrie ist die Gesetzeslage anders als in der Medizin: In den Vereinigten Staaten sind Tierversuche für Kosmetika grundsätzlich nicht gesetzlich vorgeschrieben. Die Europäische Union hat Tierversuche für die Kosmetikindustrie 2013 gebannt.

Auch in der Medizin zeichnen sich Änderungen ab: Die EU hat hohe Summen in das Projekt Human Avatar investiert und möchte damit einen Paradigmenwechsel zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem einleiten. Aber wir stehen noch ganz am Anfang dieser Entwicklung.

Wie ist der Status Quo in der tierversuchsfreien medizinischen Forschung?

Die Situation in der tierversuchsfreien Medizin ist kompliziert. In der akademischen Grundlagenforschung wird noch sehr viel am Tiermodell gearbeitet und in der Medikamentenzulassung sind Tierversuche noch unerlässlich, weil sie vorgeschrieben sind.

Der Bann von Tierversuchen in der Kosmetikindustrie war der erste Schritt in die richtige Richtung. Es handelt sich dabei erstmals um ein Verbot und kein Gebot. In Österreich ist ein Tierversuch dann nicht mehr erlaubt, wenn es eine Alternative dazu gibt. Aber bis jetzt wurde noch kein Tierversuch abgelehnt – trotz der Entwicklung alternativer Modelle. Es braucht eine klare Gesetzgebung.

Was sind die noch unüberwindbaren Probleme?

In der medizinischen Forschung sind Tierversuche ausgesprochen beliebt. Wenn man mit tierversuchsfreier Forschung kommt, ist man zunächst großer Kritik ausgesetzt. Die meisten medizinischen Universitäten verfügen über Tierversuchsstallungen und nutzen diese auch für die Grundlagenforschung.

Solange sich die Gesetze in den einzelnen Ländern nicht ändern, wird auch die Industrie nichts ändern. Tierversuchsfreie Alternativen werden lediglich in Evidenz gehalten – für den potenziellen Stichtag in ferner Zukunft, an dem ein Verbot in Kraft tritt. Hier ist die Politik gefordert und wir alle wissen, dass politische Prozesse sehr träge sind.

Ein weiterer Aspekt ist der akademische Publikationsdruck. Publikationen sind die Währung und notwendig, um an Drittmittel zu kommen. Für eine optimale Karriereentwicklung muss Erfolg messbar sein. Obwohl schon seit Jahrzehnten kritisiert, ist der gängigste Messparameter für die Qualität von Forschung immer noch der journal impact factor. Das ist eine errechnete Zahl, deren Höhe den Einfluss einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift wiedergibt. In den einflussreichsten Zeitschriften wie Nature sind Daten und Studien basierend auf Tierversuchen gern gesehen. Viele gleichwertige Journale verlangen bei in vitro Modellen sogar den Vergleich zu in vivo.

Wie unterscheidet sich Ihr Projekt von jenen anderer?

Unser Projekt hat die Anforderung tierversuchsfrei zu sein – sowohl das Modell selbst als auch alle Analysen, die das Modell betreffen. Das ist gar nicht so einfach, da Seren zum Blocken, Kollagene als Bausubstanz oder Antikörper zum Visualisieren meistens tierischen Ursprung haben. Wir werden in unserem Projekt aber definitiv auf solche Substanzen verzichten. Das stellt mitunter eine große Herausforderung dar. Glücklicherweise gibt es hier tolle künstliche Alternativen beziehungsweise Substanzen, die man aus menschlichem Blut gewinnen kann.

Welche Probleme löst ihr Projekt – und welche Probleme müssen Sie noch lösen, um dahin zu kommen?

Wir entwickeln ein menschliches Modell als Alternative zu einem Tierversuch. Mehr als das verzichten wir auch auf alle anderen tierischen Bestandteile, die in medizinischen Versuchen zur Anwendung kommen. Damit tragen wir wesentlich dazu bei, organ-on-a-chip Systeme relevanter für menschliche Krankheiten zu machen. Schließlich haben Menschen kein Kälberserum im Blut oder Mäusewachstumsfaktoren in unserem Gewebe.

Eigentlich arbeiten wir mit biologischem Müll. Wenn am menschlichen Gelenk Gewebe entnommen wird, dann wird das entsorgt – oder wir verwenden es. Es ist wichtig, mit den vorhandenen Ressourcen möglichst sorgsam umzugehen.

Sie sagen, zumindest in manchen Bereichen könnte medizinische Forschung ohne Tierversuche möglich sein.  Wovon ist dies abhängig?

Das hängt davon ab, inwieweit Gesetzgeber und Industrie bereit sind, relevante Summen in die Entwicklung von Alternativen zu Tiermodellen zu investieren.

Ein weiterer wichtiger Faktor wäre aber auch ein Update der Lehre. Universitätsabsolventen müssen über die Alternativen zu Tierversuchen im Detail informiert sein. Ich wünsche mir ein verpflichtendes Lehrangebot für Studenten aller relevanten Studienzweige – besonders aber an den Medizin- und Life Science-Universitäten in Österreich.

Die Technische Universität Wien hat diesem Thema mit fünf freiwillig zu absolvierenden Lehrveranstaltungen einen wichtigen Schwerpunkt in der Lehre gewidmet. Das ist österreichweit aber leider noch einzigartig. Bislang werden an den Universitäten nur die Vorteile von Tiermodellen und die Unzulänglichkeiten überholter Alternativen wie zwei-dimensionaler Zellkulturen gelehrt. So ist es weiter nicht verwunderlich, wenn sich in den Köpfen der künftigen geistigen gesellschaftlichen Elite wenig ändert.

Es gibt auch Zweifel an der tierversuchsfreien Forschung. Man sagt, Zellkulturen und Computermodelle können Tierversuche nicht ersetzen, da diese komplexe biologische Prozesse nur unzureichend nachbilden. Wie stehen Sie dazu?

Wichtig ist es, vorab zu definieren, wie komplex ein Modell sein muss, um eine bestimmte medizinische Fragestellung zu beantworten. In der tierversuchsfreien Forschung können wir viel über Krankheiten aus entnommenem Patientengewebe lernen. Die Erkenntnisse aus dem Patienten können wir direkt auf das Alternativmodell anwenden. Ist zum Beispiel die Kombination von drei Zelltypen nicht ausreichend, um für eine bestimmte Fragestellung relevant zu sein, können wir so lange verschiedenste funktionale Zelltypen hinzufügen, bis das System komplex genug ist, um die Fragestellung zu beantworten. Es wird definitiv bei jeder Fragestellung und Krankheit notwendig sein, das Alternativ-System um die kritischen funktionalen Zelltypen und biochemischen Prozesse zu erweitern, bis es den biologischen Prozess ausreichend nachbildet.

Danke für das Gespräch.

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