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Europa kann weltweit Vorreiter bei der Elektrifizierung des Verkehrssektors sein. Jedoch nur, wenn die europäischen Vorschläge zur Reduzierung der CO2-Emissionen um 55 Prozent bis zum Jahr 2030 Gesetz werden. Das sagt Philippe Vangeel, Generalsekretär von AVERE, dem europäischen Verband für Elektromobilität. Der Verband arbeitet daran, den Übergang zur Elektrifizierung zu fördern, indem er Einfluss auf die europäische Energiepolitik nimmt. Wir sprachen mit dem 52-jährigen Flamen, kurz bevor er zu einer Konferenz nach Deutschland aufbrach – natürlich mit seinem Elektroauto.

Nur um das festzuhalten: Sie haben wahrscheinlich den einfachsten Job der Welt. Schließlich ist die Elektrifizierung des Verkehrssektors eine ausgemachte Sache.

Die Zahlen für die Elektromobilität sind zwar positiv, aber es gibt noch viel zu tun. So sind beispielsweise einige Länder in Europa sehr weit vorne, während andere weit zurückliegen. Das ist ein Problem. Schließlich kennen Emissionen keine Grenzen. Und es kann nicht sein, dass elektrisches Fahren nur etwas für wenige Auserwählte ist.

Vangeel während einer Präsentation auf der letzten Power2Drive-Veranstaltung in München

Welche Länder sind die Vorreiter?

Norwegen ist führend, was die Anzahl von Elektroautos pro Kopf angeht. Die Dinge entwickeln sich dort sehr schnell. Ab 2025 werden dort nur noch E-Fahrzeuge auf dem Markt sein. Die Ladeinfrastruktur ist jedoch anders als beispielsweise in den Niederlanden.

Der Grund dafür ist, dass die Norweger ihr Auto in 80 Prozent der Fälle zu Hause oder am Arbeitsplatz aufladen. Dies wiederum hat mit der Geschichte, der Raumplanung und der Bevölkerung Norwegens zu tun, aber auch mit einer proaktiven Gesetzgebung, die das Laden zu Hause fördert. So ist es zum Beispiel seit einiger Zeit vorgeschrieben, dass Garagen in neu gebauten Wohnblocks mit Ladestationen ausgestattet werden müssen.

Sie haben die Niederlande erwähnt. Wie ist die Situation dort?

Die Niederlande sind in Europa führend in puncto Ladeinfrastruktur. Das liegt auch daran, dass das Aufladen zu Hause nicht so selbstverständlich ist wie zum Beispiel in Norwegen. Da jedes Land seine eigenen Spezifikationen hat, lassen wir uns bei AVERE nicht nur von Zahlen leiten. Es gibt keine Formel, die für jedes Land gilt.

Zu Beginn des Sommers stellte die Europäische Union das Programm “Fit for 55” zur Beschleunigung der Elektrifizierung vor.

Lassen Sie uns in der Zeit zurückgehen. Seit 2013 gibt es die europäische Richtlinie über die “Infrastruktur für alternative Kraftstoffe”. Es handelt sich um eine Richtlinie, wobei es den Mitgliedstaaten freigestellt ist, die Maßnahmen umzusetzen oder nicht. Mit “Fit for 55”, dem Ziel, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent zu senken, müssen die Maßnahmen in Rechtsvorschriften umgesetzt werden. Wenn das geschieht, sind wir auf dem richtigen Weg. Doch davor müssen der Rat (der Europäischen Union) und das Europäische Parlament ihre Stellungnahme abgeben.

© Amber

Und wenn “Fit for 55” nicht in die Tat umgesetzt wird?

Mit der derzeitigen Gesetzgebung werden wir die Ziele der Pariser Klimakonferenz (2015, Anm. d. Red.) nie und nimmer erreichen. Nur wenn wir die in “Fit for 55” vorgeschlagenen Maßnahmen umsetzen, sind wir auf dem richtigen Weg.

Was könnte in Europa besser laufen?

Es ist wichtig, dass der Markt in Gang kommt. Die Anschaffung eines Elektrofahrzeugs ist derzeit noch teuer. Der höhere Anschaffungspreis ist für viele Menschen ein Hindernis. Leider werden die “Total Cost of Ownership” beim Kauf nicht ausreichend berücksichtigt. Das wichtigste Alleinstellungsmerkmal für den Kauf eines Kühlschranks ist das Energielabel. Die Anschaffung ist etwas teurer für ein Gerät mit geringem Verbrauch, aber man weiß, dass sich die Differenz mit der Zeit wieder auszahlt. Mit dem Aufladen zu Hause (was immer noch die billigste Art des Aufladens ist), amortisiert sich ein E-Fahrzeug in weniger als fünf Jahren. Außerdem fallen kaum Wartungskosten an. Die Autokäufer müssen darauf aufmerksam gemacht werden.

Aber bei Nutzung der Schnellladefunktion geht diese Rechnung nicht auf.

Schnelles Laden ist teurer. Aber es ist fast unnötig, schnell zu laden. Sie tun das nur, wenn Sie lange Strecken zurücklegen. Im Durchschnitt fährt ein Autofahrer nur 35 bis 40 Kilometer pro Tag. Ein Auto ist nur 5 Prozent seiner Lebensdauer auf der Straße. Die übrige Zeit steht es still.

Das Aufladen des E-Fahrzeugs ist wie das Aufladen eines Mobiltelefons. Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch und lade es auf, weil ich weiß, dass ich dann lange Zeit unterwegs sein werde. Und natürlich laden Sie nachts auf.

Besteht die Gefahr, dass wir nicht genug erneuerbare Energie erzeugen können? Ist die vollständige Elektrifizierung des Verkehrssektors realistisch?

Es stimmt, dass es teilweise einen Mangel an erneuerbarem Strom gibt. Aber das Schöne ist, dass die Elektromobilität selbst Teil der Lösung dieses Problems ist.

Wie meinen Sie das?

Erneuerbare Energien weisen Spitzen- und Tiefstwerte auf. Heute Morgen ist es zum Beispiel sonnig, heute Nachmittag wird es bewölkt sein und der Wind wird zunehmen. Daher ist es wichtig, dass die Ladung zum Zeitpunkt der Spitzenerzeugung erfolgt. Wenn man das schafft, das so genannte intelligente Laden, dann hat man einen großen Teil des Energieproblems gelöst. Intelligentes Laden wird über den Erfolg des elektrischen Ladens entscheiden. Es gibt bereits Systeme, bei denen den Nutzern ein finanzieller Anreiz geboten wird, zu Spitzenzeiten zu laden.

Wenn sich die Elektrifizierung endlich durchsetzt, wird eine riesige Batteriekapazität zur Verfügung stehen. Es ist also sehr wichtig, dass man dann lädt, wenn es viel Sonne oder Wind gibt.

Über welche Kapazitäten sprechen wir da?

Die potenzielle Kapazität ist bereits jetzt enorm. Denken Sie einmal darüber nach: In Europa sind heute etwa eine Million E-Fahrzeuge unterwegs. Multipliziert man dies mit der durchschnittlichen Batteriekapazität eines 40-kW-Autos, ergibt sich ein riesiges Speicherpotenzial von 40 Millionen kW.

Kann der Autofahrer die (überschüssige) Energie dann anderweitig nutzen?

Genau so ist es. Und jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter. Wir sollten uns schließlich auf das Konzept Fit to the Grid (V2G) zubewegen, bei dem der Strom aus den Fahrzeugbatterien in das Netz eingespeist wird. Das vermeidet Spitzen und spart Geld. Auf diese Weise werden E-Fahrzeuge sowohl zu Energieverbrauchern als auch zu Energieerzeugern.

Das ist nicht neu. Die Technologie wurde bereits getestet und wir setzen große Hoffnungen in sie. In Zukunft wird man als Fahrer eines Elektroautos dafür sorgen, z. B. während der Stoßzeiten mit Solarenergie zu laden. Nach der Rückkehr nach Hause nutzt man die verbleibende Energie aus der Batterie des Elektrofahrzeugs, um in der Küche zu kochen, wenn eine hohe Stromnachfrage besteht (sogenanntes V2H oder “Vehicle to Home”, Anm. d. Red.).

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