© Markus Breig, KIT
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Davon kann wohl jeder Arbeitnehmer ein Lied singen. Da arbeitet man konzentriert an einem Projekt, es läuft fantastisch, die Ideen fließen nur so … und dann kommt ein Kollege und unterbricht, das Telefon läutet oder es kommt eine Email. Die Konzentration ist weg und man braucht danach eine gefühlte Ewigkeit, um wieder in Tritt zu kommen. Das kostet alles nicht nur Zeit, sondern baut auch zusätzlichen Stress auf, der alleine schon durch Dinge wie Großraumbüros, Zeit- und Leistungsdruck oder ständige Erreichbarkeit oft größer ist als auf Dauer erträglich oder gesund.

Wie das Ärzteblatt berichtet, fühlt sich jeder zweite Bundesbürger von Burnout bedroht und beinahe neun von zehn Deutschen fühlen sich von ihrer Arbeit gestresst. Mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmer leidet zumindest hin und wieder unter Rückenschmerzen, anhaltender Müdigkeit, innerer Anspannung, Lustlosigkeit oder Schlafstörungen. 53 Prozent der Befragten schlafen nach eigenen Angaben schlecht, 54 Prozent grübeln über ihre Arbeit nach.

Dazu kommt, dass Menschen nicht immer gleich leistungsfähig sind und alle unterschiedliche Schaffensphasen haben, nicht nur Schriftsteller oder Künstler. Sie können jedoch andererseits auch am Arbeitsplatz so in ihrer Tätigkeit aufgehen, dass sie in einen konzentrierten Zustand – den „Flow“ – kommen, und sich dadurch wohler und zufriedener fühlen und leistungsfähiger sind.

Das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hat sich deshalb im koordinierten Projekt Kern (kurz für „Kompetenzen entwickeln und im Zeitalter der Digitalisierung richtig nutzen“), zum Ziel gesetzt, mit Hilfe künstlicher Intelligenz diesen Flow herzustellen und zu erhalten. Es entwickelt ein Assistenzsystem, das den Flow dank KI anhand von Herzfrequenz oder Hautleitwert erkennt, um gegebenenfalls Störungen abzuschirmen oder Kompetenzen aufzubauen, die Flow fördern.

„Die Automatisierung und die fortschreitende Digitalisierung der Wertschöpfungsketten verändert die Arbeitswelt rasant“, sagt Professor Alexander Mädche vom KIT. „Modernes Kompetenz- und Bildungsmanagement muss Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der zielgerichteten Entwicklung und dem Einsatz ihrer Kompetenzen am Arbeitsplatz kontinuierlich unterstützen.“ Hintergrund des Projekts ist die Annahme, dass ein Mensch am zufriedensten und produktivsten ist , wenn er ungestört „seiner“ Tätigkeit nachgehen kann und seine Fähigkeiten optimal zu den Anforderungen seiner Tätigkeit passen.

Flow
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Alle Mitarbeiter haben Kompetenzen

„Letztendlich haben alle Mitarbeiter Kompetenzen und wollen diese auch in der digitalen Welt weiterentwickeln“, betont Mädche. „Eine wesentliche Innovation des Projekts ist eben, dass wir versuchen, real operativ im Arbeitsalltag zu erkennen, wann Mitarbeiter Kompetenzmängel haben. Das Konzept basiert darauf, zu sagen, wenn ich erkenne, dass Mitarbeiter nicht in dem Zustand ihrer Arbeit aufgehen, auch Flow genannt, dann brauchen sie Unterstützung hinsichtlich ihrer Aufgaben bzw. ihrer Kompetenzen. Genau das leistet das Kompetenzassistenzsystem.“

Vereinfacht ausgedrückt geht es bei Kern darum, diesen Flow am Leben zu halten, der idealerweise nicht unterbrochen sondern unterstützt werden sollte, um diese Zeit im Flow während der Arbeit zu maximieren. „Wenn man sich als Beispiel einen Projektleiter vorstellt, der sehr viele Nachrichten erhält, ist die Idee des Kompetenz Assistenzsystems, das zu regulieren“, so Mädche. Das System würde dann die Benachrichtigungen entsprechend bearbeiten, um den Projektleiter während seiner Zeit im Flow nicht zu unterbrechen.

Um das zu erreichen, muss man den Flow aber erst einmal zuverlässig erkennen. Zu diesem Zweck tragen die Probanden am Arbeitsplatz Wearables wie ein Armband oder einen Brustgurt, die beispielsweise Herzfrequenz oder Hautleitwert messen. Da diese physiologischen Daten sehr komplexe Muster sind, die von Person zu Person stark variieren können, seien neuartige Ansätze aus dem Bereich KI erforderlich, um Muster des Flows in Echtzeit zu erkennen, wissen die Forscher. Mit einem neuroevolutionären Deep-Learning Ansatz, einer Methode des Maschinellen Lernens, ist es einer Arbeitsgruppe am KIT kürzlich gelungen, erstmals den Flow auf Basis physiologischer Daten zu klassifizieren.

Auf dieser Basis entwickelt das Projekt Kern dann den Prototypen eines KI-basierten KAS, das situationsbezogenes Feedback geben soll, wie zum Beispiel E-Mails und Benachrichtigungen so zuzustellen, dass der Flow nicht gestört wird. Das System würde aber auch erkennen, wenn produktives Arbeiten längerfristig gestört ist, etwa weil die Aufgaben nicht mehr dem Kompetenzprofil des Mitarbeiters entsprechen und würde in diesem Fall Vorschläge zur „persönlichen Kompetenzentwicklung“ machen.

„Das Projekt Kern konzipiert Bildungsformate sowohl zur Aufgabenbewältigung als auch zur strategischen Personalentwicklung“, heißt es bei KIT. „Diese können von Kurzmeldungen mit Alltagstipps, über einen digitalen Assistenten bis hin zur persönlichen Beratung durch einen menschlichen Experten reichen.“ Wie ein Navigationssystem im Auto, das bei Staus Umfahrungsmöglichkeiten angibt, geben KI-basierte KAS situationsabhängige Handlungsempfehlungen, zum Beispiel durch den Vorschlag konkreter Lern- oder Arbeitseinheiten. Ob sich der Mitarbeiter wirklich an diese Empfehlungen hält oder nicht, bleibt ihm überlassen.

Flow
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Mitarbeitern helfen, sich im Arbeitsalltag weiterzuentwickeln

Trotz aller Vorteile, die diese neuen Systeme, die die Beschäftigen aufgrund von physiologischen Daten in Echtzeit unterstützen und beraten, greifen sie auch in die Privatsphäre dieser Personen ein. Deswegen legen Mädche und seine Kollegen großen Wert auf Datenschutz. „Wir müssen auf der einen Seite sehen, welche Daten werden wann mit wem geteilt und wie wir die Privatsphäre sicherstellen können. Auf der anderen Seite aber auch, wie wir eine Datenauswertung mit intelligenten Methoden betreiben können.“ Mädche ist jedoch fest davon überzeugt, „dass KI-basierte KAS ein großes Potenzial haben, wir müssen sie aber als sozio-technische Systeme begreifen und gestalten.“

KAS, wie sie im Projekt Kern entwickelt werden, sollen Mitarbeitern helfen, sich im Arbeitsalltag weiterzuentwickeln und das im Idealfall punktgenau und interaktiv, erklären die Wissenschaftler. „Damit sollen individuelle Bedürfnisse und Unternehmensziele gleichermaßen berücksichtigen und einen Rahmen schaffen, in dem sich Beschäftigte wirtschaftlich und motiviert weiterbilden und Kompetenzen richtig aufbauen können.“

Das Projekt Kern wird vom KIT koordiniert und in Zusammenarbeit mit den Partnern SAP SE, TÜV Rheinland Akademie GmbH, Campusjäger GmbH und B. Braun Melsungen AG durchgeführt. Es wird im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit 1,36 Millionen Euro gefördert.

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