An der Universität Graz forscht man an einem funktionierenden Zusammenhalt zwischen den Generationen. (c) Universität Graz - Kanizaj
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Mit den Achtundsechzigern altert eine selbstbestimmte Generation, die das traditionelle Versorgungssystem in Frage stellt, so der Experte für Palliativpflege und Organisationsethik Andreas Heller. Er forscht am alternativen Konzept der Caring Communities und setzt sich für eine Sorgerevolution ein.

„Die Baby-Boomer stellen hohe Autonomie- und Flexibilitätsansprüche und wollen nicht in die derzeitigen Pflegeeinrichtungen gehen“, sagt Heller, Professor für Palliative Care und Organisationsethik an der Universität Graz. Eine Erkenntnis, die er aus mehreren Studien zog. Damit begibt er sich in Opposition zu den laufenden Ausbau-Maßnahmen für die Versorgung Älterer und Sterbender – und fordert Lösungen, die derzeit politisch nicht angedacht seien. Obwohl die gesellschaftliche Entwicklung dies nahelegt: Es gibt immer mehr Pflegebedürftige, aber weniger Angehörige, die sie betreuen können. 2015 werden 1,25 Millionen Menschen über achtzig Jahre alt sein (Quelle: Aktionsnetzwerk Alt sein und gut leben 2050). Ein Versorgungssystem, das sich an der Bettenkapazität in den Pflegeeinrichtungen orientiert, kann Heller ebenso wenig gutheißen, wie Roboter und die Ausbeutung von Pflegepersonal aus Osteuropa.

Intergenerationelle Stadtlösungen

Geeigneter erscheinen ihm sogenannte Caring Communities. Heller widmet seine Forschungsarbeit der Funktion von sorgenden Gemeinschaften und setzt sich für intergenerationellen Zusammenhalt ein. Konkret sind es intergenerationelle Stadtlösungen, an denen er gemeinsam mit seinen Kollegen Klaus Wegleitner und Patrick Schuchter forscht. „Die professionelle Versorgung von Menschen am Lebensende reicht nicht aus, es braucht einen Sorgemix, der nachbarschaftlich und wohnortbezogen organisiert wird“, so Wegleitner. Dabei sind es Angehörige, Nachbarn und freiwillig Unterstützende, die sich um die Stabilisierung des Alltags älterer und chronisch kranker Menschen kümmern und Tätigkeiten wie etwa Kochen, Einkauf und Haushalt übernehmen oder einfach nur Gesellschaft leisten.

Transdisziplinäre Kooperationen

Laut dem Forscherteam sind die interdisziplinäre Ausrichtung ihres Lehrstuhls und die Abteilung Public Care an der Universität Graz einzigartig in Europa. Neu an deren Ansatz ist eine transdisziplinäre und partizipative Kooperation. Neben Betroffenen, Angehörigen, Organisationen und Politik sind auch Architektenbüros eingebunden. Im Sorgerecht soll es eine sektorenübergreifende Zusammenarbeit geben und diese übergreifende Zusammenarbeit soll auch forscherisch zusammengedacht werden, erklärt Wegleitner.

„Wir untersuchen vielschichtige Standpunkte, um gemeinsam tragbare Konzepte zu entwickeln. Wichtig ist dabei auch die Vernetzung mit anderen Sorgebereichen und eine Reflexion auf den Status von Sorgearbeit in unserer Gesellschaft insgesamt.“ Schuchter

Die soziale Debatte aufgreifen

Die Forscher kommen aus den Bereichen Philosophie, Theologie und Soziologie und setzen zwei Schwerpunkte:

  • die Bedürfnisse kranker, alter und beeinträchtigter Menschen;
  • die Frage, wie sich die Zivilgesellschaft mobilisieren lässt, einen Teil der Sorge zu übernehmen;

Darüberhinaus gründeten sie mit der Altersforscherin Ulla Kriebernegg den Cluster für Care and Age Research. Gemeinsam wollen sie die sozialpolitische Debatte aufgreifen und Lösungen für ein gutes Leben bis zum Schluss entwickeln. „Diese Arbeit gibt generell Impulse für die Zukunft der Gesellschaft. Im Sterben sieht man die existenziellen Fragen des Lebens wie unter einem Vergrößerungsglas. Wir forschen nach Antworten, die für alle relevant sind“, so Heller.

Wissenschaftliche Begleitung von Projekten

Das Team war bereits an der Entwicklung von Caring Communities Konzepten in Landeck (Vorarlberg) 2014, einer Initiative des Österreichischen Roten Kreuz in Großenzersdorf (Niederösterreich) und Eferding (Oberösterreich) 2018 beteiligt. Dazu Heller in einem Interview mit dem Aktionsnetzwerk Alt sein und gut leben 2050: „Dabei arbeiten wir mit nachbarschaftlich überschaubaren Einheiten. Pflegende Angehörige werden aus der Isolation an runde Tische zum Austausch geholt. Das Echo war enorm. Wir hatten mit zwanzig bis fünfzig Personen gerechnet, gekommen sind hundertvierzig (Anmerkung: in Landeck). Die drängendsten Fragen der Menschen: „Einsamkeit“ und „Was schulden wir einander?“

Darüberhinaus brachten die Forscher ihr Wissen auch in Projekten in Deutschland ein. Im Projekt Caring Cologne kooperierte die Universitätsklinik mit der Stadt Köln, um gemeinsam mit Unternehmen, Institutionen und Schulen ein Entwicklungsforum in Gang zu bringen.

Ein weiteres Beispiel ist die Umsetzung eines Caring Communities Projektes in Berlin, das unter dem Titel Sorgender Bezirk – Compassionate Community Treptow-Köpenick 2017 an den Start ging. Die Idee wurde unter der Schirmherrschaft von Gernot Klemm, Bezirksstadtrat für Soziales und Jugend entwickelt und umgesetzt. Wegleitner unterstützte das Projekt auf wissenschaftlicher Basis. Dabei ging es um folgende Aspekte:

  • die Erforschung des Status Quo in der Betreuung von Behinderten, Schwerkranken und alten Menschen;
  • die Stärkung der Sorgenetzwerke und –kultur;
  • die Verbesserung des Zusammenspiels zwischen informellem Netz und professionellen Diensten;
  • die Unterstützung der Selbsthilfe von Bürgerinnen und Bürgern;

Symposion

Am 15. und 16. März 2019 führt die Abteilung für Palliative Care und Organisationsethik in Kooperation mit dem Sorgenetz ein internationales Symposion in Graz durch. Der Titel: Horizonte der Sorge – Palliative/Hospice Care und Caring Communities. Nähere Informationen dazu finden Sie hier.

 

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