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Menschen, die einen Schlaganfall oder ein Schädel-Hirn-Traum erlitten haben, müssen meist vieles wieder komplett neu lernen – Laufen, Schreiben, Verstehen, ihre Gliedmaßen zu kontrollieren und Sprechen. Nach einem Schlaganfall ist oft – ja nach Schwere des Infarkts und auf welcher Seite des Gehirns er war – auch die Sprache zumindest betroffen, wenn nicht sogar völlig weg. Bei Rechtshändern liegt in der linken Gehirnhälfte neben der Kontrolle über die rechte Körperseite nämlich auch das Sprachzentrum, bei Linkshändern auf der rechten Seite.

Da kann dann schon ein so einfaches Wort wie Kaninchen ein Problem darstellen. Was folgt, ist ein monatelanges Training mit einem Logopäden, wobei die Patienten oft bei Null anfangen und jeden Laut mühsam neu lernen müssen. Mitunter dauert es sogar Jahre, bis die Betroffenen ihre Sprache vollständig zurückerobert haben und auch die Wortfindungsschwierigkeiten vollständig überwunden sind.

Störungen, die mit einem Verlust der Sprache einhergehen, heißen in der Medizin Aphasie, eine Krankheit, die nur durch regelmäßige Übung besiegt werden kann: sprechen, sprechen, sprechen. Idealerweise sollte in mindestens fünf Therapieeinheiten à ein bis zwei Stunden pro Woche geübt werden. Von dieser Idealsituation ist die Realität aber weit entfernt.

Aphasiker müssen sich in der Regel mit einer einzigen Therapiesitzung pro Woche begnügen und das auch nur für eine begrenzte Zeit. Gesetzliche Krankenkassen übernehmen 10 Sitzungen à 45 Minuten, bei nachgewiesenem Bedarf kann ein Arzt maximal sechs aufeinanderfolgende Verordnungen ausstellen. Bei privaten Krankenkassen muss erst geklärt werden, ob der Versicherungsvertrag eine logopädische Behandlung überhaupt einschließt.

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Das Gründerteam v.l. Hanna Jakob, Jakob Pfab, Mona Späth, Swaroop Nunna © neolexon

neolexon – der Logopäde für Zuhause

Die beiden Sprachtherapeutinnen Mona Späth und Hanna Jakob hatten 2014 die Idee zu zur neolexon-App. Sie haben an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Sprachtherapie studiert und waren anschließend in verschiedenen Kliniken und Praxen sprachtherapeutisch tätig. Dabei machten sie die Erfahrung, dass eine effiziente Therapie mit den gegebenen Mitteln nicht erfüllt werden konnte.

Am Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung an der LMU starteten sie daraufhin das Projekt neolexon. Die Informatiker Swaroop Nunnaist und Jakob Pfab entwickelten die App, 2017 gründeten die Vier gemeinsam neolexon. „Um eine praktikable Software für unsere Patienten zu entwickeln, waren zahlreich Abstimmungsrunden zwischen der IT, uns Therapeuten und Patienten Test-Nutzern notwendig“, sagt Mona Späth.

In der traditionellen Therapie arbeitet man hauptsächlich mit analogen Therapiematerialien, wie Bildkarten und Übungsblättern. Digitale Therapieansätze bieten lediglich pauschale Übungseinheiten, die nicht an die einzelnen Bedürfnisse des Patienten angepasst werden können. Neolexon kann dagegen vom Therapeuten auf jeden Patienten individuell abgestimmt werden. Die App umfasst Tausende Wörter, Bilder und Videos, in denen die Patienten auch hören und die Mundbewegungen sehen können, wie ein Wort ausgesprochen wird.

Der größte Vorteil der App liegt aber darin, dass die Therapie nicht nur auf den Besuch beim Logopäden begrenzt ist, sondern die Patienten auch Zuhause soviel üben können, wie sie wollen. „Das neolexon Therapiesystem ermöglicht dem Patienten ein selbstständiges und unbegrenztes Üben am Tablet“, heißt es bei neolexon. „Die Übungsinhalte werden individuell durch den Logopäden zusammengestellt und so optimal an die Ausprägung und den Schweregrad der Sprachstörung sowie an die persönlichen Interessen des Patienten angepasst.“

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Vier Übungen

Mithilfe der App können vier Fertigkeiten trainiert werden: Verstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben. Die Schwierigkeit der Übung wird vom Logopäden individuell auf den Patienten eingestellt. Computerkenntnisse sind laut der Erfinder nicht erforderlich, denn eindeutige Fotos, große Bedienflächen und Schrift machen die App einfach in der Bedienung. Die einzelnen Wörter können auch im Video angehört werden und die App gibt eine klare Rückmeldung, ob die Aufgabe richtig oder falsch gelöst wurde. Als spielerisches Element gibt es „Fleißsterne“, die zum zusätzlichen Üben anregen. Alle 10 Minuten kann man sich einen Stern erarbeiten; in der Wochenübersicht kann man nachsehen, wie lange man jeden Tag geübt hat. Eine Arbeit nur mit der App ist aber nicht möglich. Es gibt sie nur in Kombination mit einem Logopäden, der bei neolexon registriert ist und das Eigentraining einstellt, begleitet und ständig an den Lernfortschritt anpasst.

Die App ist als Medizinprodukt zertifiziert und hält die datenschutzrechtlichen Anforderungen nach DSGVO und BDSG-neu ein. Trotzdem übernimmt nur eine Krankenkasse – die IKK gesund plus – im Rahmen eines Innovationsprojektes die Kosten der Anwendung für Patienten. Bei Ärzten und Therapeuten steht die App jedoch hoch im Kurs. „Bei Neolexon handelt es sich um eine umfangreiche und sehr hochwertige sprachtherapeutische App. Sie verbindet gut kontrolliertes Wort-, Satz- und Bildmaterial mit strukturierten Übungen und erfüllt den Anspruch der Individualisierbarkeit“, urteilt die Ärztezeitung. „Sprachtherapeutinnen berichten, dass die Arbeit mit Neolexon viele Patienten motiviere. Bemängelt wird allerdings der recht hohe Preis und dass die App abonniert werden muss.“

Bei neolexon hofft man jedoch, dass im Laufe der Zeit auch andere Krankenkassen die Kosten übernehmen werden und die App somit für alle Aphasie-Patienten zugänglich ist. „Unser langfristiges Ziel ist es, dass die Versicherungen die Kosten für die Aphasie-App des Patienten erstatten“, sagen die Gründerinnen.

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